Seit Dienstagabend schaut die Welt nach Amerika, wo etwa 160 Millionen Wahlberechtigte ihre Stimme für den bisherigen oder einen neuen US-Präsidenten abgeben. Schon jetzt steht fest: Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Joe Biden, hat eine eindeutige Mehrheit der absoluten Wählerstimmen. Warum er trotzdem nicht zwingend Präsident wird, das hat "WortMelder" bei Jürgen Martschukat, Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt, nachgefragt...
„Wer, so wie ich, die Präsidentschaftswahlen in den USA auf CNN verfolgt hat, mag fasziniert oder irritiert gewesen sein: Wie in Endlosschleife schoben John King und Wolf Blitzer mögliche Ergebnisse in zig ‚battleground states‘ in beeindruckendem Tempo hin und her, um Szenarien für alle möglichen Wahlausgänge durchzuspielen. Und das, obwohl Joe Biden in der Gunst der Wähler*innen (gemessen an den insgesamt abgegebenen Stimmen) immer vorn lag; nicht so deutlich, wie es die Demoskopen seit Monaten prognostiziert hatten, aber doch noch mit recht beruhigendem Vorsprung. Aber: Es ist halt nicht eine einzige Wahl, die über den Gewinner entscheidet. Vielmehr finden 51 Wahlen in 50 Staaten plus dem District of Columbia statt, die ihre jeweiligen Delegierten für das Electoral College bestimmen, das dann wiederum den Präsidenten wählt: 435 Wahlleute, die sich je nach Bevölkerungszahl auf die einzelnen Staaten verteilen, plus 100 für die jeweils zwei Senator*innen jeden Staates plus drei weitere für DC ergibt insgesamt 538. Wer 270 oder mehr Stimmen auf sich vereinen kann, wird Präsident. Und das muss eben nicht notwendig derjenige sein, der landesweit die Nase vorn hat, wie wir in der US-Geschichte schon mehrmals erfahren durften (neben 2016, als Hillary Clinton fast drei Millionen Stimmen mehr bekam als Donald Trump und dennoch verlor, auch in den Jahren 2000, 1888, 1876, 1824).
Was zunächst wie ein System erscheinen mag, das erfunden wurde, um Ungerechtigkeiten zu erzeugen, das Publikum zu verwirren und die Spannung hochzuhalten (zumal ja außerdem einzelne Ergebnisse womöglich vor Gericht angefochten werden können), mag sich in seiner Sinnhaftigkeit, aber auch in seiner subtileren Lückenhaftigkeit etwas besser erschließen, wenn man sich anschaut, wie es historisch entstanden ist: Die Verfassungsgebende Versammlung von 1787 hatte drei wesentliche Beweggründe, den Präsidenten durch eigens und ausschließlich dafür bestimmte Delegierte der Einzelstaaten wählen zu lassen: erstens die Souveränität der Einzelstaaten, zweitens die Skepsis gegenüber der Kompetenz der wahlberechtigten Bevölkerung sowie drittens die Furcht vor Patronage und der Korrumpierbarkeit politischer Amtsträger.
Beginnen wir mit der Souveränität der Einzelstaaten: Diese empfinden sich als sehr eigenständig und zudem als sehr unterschiedlich. Das gilt bis heute, und vielleicht ist über die Jahrhunderte mit der zunehmenden Größe des Landes und der vielfältigen Migration die Diversität sogar gestiegen. Zwar waren die 13 (ehemaligen) Kolonien schon im Laufe der Amerikanischen Revolution enger zusammengerückt. Doch als sie im Jahr 1787 Delegierte nach Philadelphia schickten, um den seit wenigen Jahren bestehenden, sehr losen neuen Staatenbund noch ein wenig enger zusammenzubinden, war es für diese zugleich von größter Bedeutung, ihre Rechte und Interessen als Einzelstaaten zu bewahren. Diese Interessen sahen im Süden anders aus als im Norden, in Neu-England anders als in den Mid-Atlantic-Staaten; und kleinere Staaten mit weniger Wahlberechtigten wollten von größeren und bevölkerungsstarken Staaten mit mehr Wahlberechtigten nicht politisch dominiert werden können.
All das sprach dagegen, den Präsidenten einfach durch eine bundesweite Wahl bestimmen zu lassen. Vor allem die Staaten des Südens, deren Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in der Sklaverei gründete, fürchteten vom Norden dominiert zu werden. Um hier einen Ausgleich herbeizuführen, hatte man bereits für die Legislative ein Zweikammersystem entworfen: Im Senat sollten alle Staaten gleichberechtigt vertreten sein, während sich die Zahl der Repräsentanten nach der Bevölkerungszahl richtete (wobei man Sklav*innen als 3/5-Menschen zählte). Außerdem war man nicht sicher (und damit wären wir bei der Skepsis gegenüber der Wahlbevölkerung angekommen), ob man den wahlberechtigten Menschen (und das waren zunächst ohnehin nur erwachsene, weiße Männer mit einem bestimmten Einkommen oder Besitz und damit ein Bruchteil der Bevölkerung) wirklich zutrauen wollte, dass sie verantwortungsvoll entschieden und politisch kompetent handelten. Bei einer Volksabstimmung über den Präsidenten sei die Gefahr, dass sie nur Kandidaten aus dem eigenen Staat wählten oder Demagogen verfielen, zu groß, befürchteten so manche der sogenannten Gründerväter.
Eine mögliche Alternative war, den Präsidenten vom Kongress wählen zu lassen. Hier fürchtete man jedoch (dritter Punkt) Parteilichkeit, Patronage und Korruption. Die Gefahr, dass politische Amtsträger bestechlich seien, eher im Sinne ihres eigenen Vorteils als des großen Ganzen entschieden, wurde als zu groß erachtet. Zudem erschien diese Gefahr umso dringlicher, als dass viele Zeitgenossen ohnehin befürchteten, mit dem Präsidenten eine neue Art von König zu installieren. Umso vorsichtiger wollte man bei der Entwicklung des Wahlmodus sein.
Als ideale Lösung erschien ein Kollegium von Wahlleuten – das Electoral College. In den Einzelstaaten bestimmt, dabei die Zahl der Bevölkerung spiegelnd und um zwei Personen pro Staat ergänzt (stellvertretend für die Senatoren), würde ein solches Kollegium einen Ausgleich zwischen größeren und kleineren Staaten schaffen. Ohne jede weitere politische Funktion, wären die Wahlleute der Korruption und Patronage unverdächtig. Den Modus ihrer Auswahl zu bestimmen, oblag von Anfang an den Legislativen der Einzelstaaten; und bis heute unterscheiden sich die Wahlmodi zwischen Florida im Südosten und Washington State im Nordwesten. Heute äußert sich das vor allem darin, bis wann eingegangene Briefwahlunterlagen berücksichtigt werden und wie ausgezählt wird, weshalb die Ergebnisse aus manchen Staaten früher vorliegen als aus anderen. Bis in die 1830er-Jahre war es noch nicht einmal uneingeschränkt üblich, die Wahlmänner durch die wahlberechtigte Bevölkerung wählen zu lassen. Häufiger legten Staaten diese Entscheidung in die Hände ihrer Legislativen. Von 1836 an war dies nur noch in South Carolina üblich, und dort stoppte man das nach dem Bürgerkrieg.
Doch letztlich liegt die Macht, die Wahlleute zu bestimmen, bis heute bei den jeweiligen Legislativen der Einzelstaaten; und hier liegt vielleicht das eigentlich größte Problem dieses Systems. Die Legislative kommt zum Zug, sollte die Auszählung der Stimmzettel in einem Staat bis zum 8. Dezember 2020 zu keinem Ergebnis kommen, das offizielle Anerkennung finden kann. Im Jahr 2000 bei der Wahl Bush gegen Gore hatte der Kongress Floridas schon eine Auswahl von Wahlleuten getroffen, für den Fall, dass die Auszählung der Wahlzettel zu keinem anerkannten Ergebnis geführt hätte. Und in diesem Modus lauert 2020 tatsächlich eine Gefahr, auf die skeptische Stimmen bereits im Vorfeld der Wahlen hingewiesen haben und die vor allem dann virulent wird, wenn es einer der Parteien an Respekt für demokratische Verfahrensweisen mangelt. Klagen gegen die Wahlverfahren einzelner entscheidender Staaten könnten einzig mit dem Ziel angestrengt werden, die Feststellung des Wahlergebnisses so zu verzögern, dass die Entscheidung über die Wahlleute in den Legislativen der betroffenen Staaten gefällt wird. Und die sind derzeit mehrheitlich in Republikanischer Hand. Donald Trump hat sich in der Wahlnacht nicht nur selbst zum Sieger erklärt, bevor die Stimmen ausgezählt waren, er hat auch angekündigt, den juristischen Weg zu beschreiten. Darum, dass er das Wahlergebnis nur dann akzeptieren werde, wenn er die Wahl gewinne, hat er nie ein Geheimnis macht. Erste Klagen sind in verschiedenen Staaten bereits eingereicht, und es ist eine wahre Klagewelle zu erwarten. Jetzt ist das Rückgrat der Justiz gefragt.“