Am 30. Juni 1972 hielt der Theologe Dr. Heino Falcke, damals Rektor des Predigerseminars Gnadau und ab 1973 Erfurter Propst, in Dresden einen Vortrag vor der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK). Unter dem Titel „Christus befreit – darum Kirche für andere“ sprach Falcke von einem „verbesserlichen Sozialismus“ und nahm dabei den DDR-Staat und die Menschen in der DDR gleichermaßen in die Verantwortung. Leitmotiv seiner programmatischen Rede war das Konzept der Freiheit. Sätze wie „Die Sache der Freiheit bewegt heute alle Menschen und Völker“ und „Unsere Zeit hat faszinierende Durchbrüche zur Freiheit erlebt, aber Freiheitsrevolutionen bringen noch nicht den freien Menschen hervor, und sie produzieren auch neue Unfreiheiten“ scheinen rückblickend die deutsch-deutsche Geschichte vorwegzunehmen und klingen auch heute, 50 Jahre später, noch nach. „WortMelder“ hat bei Prof. Dr. Michael Haspel vom Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt nachgefragt: „Inwiefern entfalteten Heino Falckes Worte eine Wirkung, die sich bis in die für die politische Wende bedeutenden Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der DDR sowie die Friedliche Revolution selbst zog“?
Hintergrund von Falckes Vortrag war, dass die evangelischen Kirchen in der DDR durch die neue Verfassung der DDR von 1968 genötigt wurden, sich von der gesamtdeutschen Evangelischen Kirche in Deutschland organisatorisch zu lösen. Dies machte auch eine theologische Standortbestimmung im Realsozialismus notwendig, denn fast zehn Jahre nach dem Mauerbau gab es keine Anzeichen, dass sich die politische Situation in absehbarer Zeit grundlegend ändern würde. Da war es wichtig, dass Heino Falcke mit diesem Referat zum einen bestätigt hat, dass die Aufgabe der Kirche in dieser sich als sozialistisch verstehenden Gesellschaft liegt und nicht etwas außerhalb oder gar gegen sie gerichtet ist. Zugleich machte er deutlich, dass auch die realsozialistische Gesellschaft noch nicht am Ziel ist. Deshalb die Rede vom „verbesserlichen Sozialismus“, die er theologisch von Gottes Ruf in die Freiheit ableitet. Das eröffnet für Christinnen und Christen die Perspektive zur „mündigen Mitarbeit“ in dieser Gesellschaft, obwohl sie kirchen- und religionsfeindlich war. Die evangelische Kirche verstand sich einerseits als Kirche im Sozialismus als Kontextangabe, aber im Anschluss an Bonhoeffer zugleich als Kirche für andere, also in der Verantwortung für das Wohlergehen der Menschen in dieser Gesellschaft.
Bei der Stasi und der SED klingelten die Alarmglocken. Damit war die alleinige Definitionsmacht der Partei über den Begriff des Sozialismus und die Realität der Gesellschaft infrage gestellt. Zugleich wurde vermutet, dass Falckes Referat eine gezielte Aktion (des Westens) sei, um den „Sozialdemokratismus“ zu stärken. Im Sozialdemokratismus als Gegensatz zum vermeintlich revolutionären Sozialismus wurde die hauptsächliche ideologische und politische Bedrohung gesehen. Aus wirtschaftlichen Gründen forcierte Moskau die Kooperation mit der BRD – das Geschäft Gas gegen Stahlröhren fiel ja genau in diese Zeit. Es gehört zu den Volten der Geschichte, dass es dann viele Arbeiter aus der DDR waren, die in der UdSSR die Leitungen aus dem Westen verschweißten, durch die dann das Gas in die BRD floss. Ideologisch führte dies zu erhöhter Wachsamkeit und Abgrenzung. Vor diesem Hintergrund muss man auch die Ablösung Ulbrichts durch Honecker sehen.
Am 3. Juni 1972 war das Viermächteabkommen über Berlin in Kraft getreten. Also knapp vier Wochen vor der Synodaltagung. Dies erleichterte und erweiterte die Besuchsmöglichkeiten in Ost-Berlin und der DDR. Die Parteiführung und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hatten Angst, dass durch die erhöhte Zahl der Begegnungen die Menschen in der DDR verstärkt mit anderen politischen Optionen in Kontakt kamen, aber auch schlicht sahen, dass der Lebensstandard ihrer Verwandten höher war. Deshalb wurde entsprechend ihrem ideologischen Muster die von Falcke vertretene Position als so gefährlich angesehen. Sie haben das nicht theologisch nachvollzogen, sondern wie eine Parteitagskommunikation verstanden. Es gab heftige Reaktionen. Die Kirche entschied sich dann, das Referat zwar nicht zu veröffentlichen, aber es verfügbar zu halten. Aber was konnte schon gedruckt werden in der DDR? Es verbreitete sich als Samisdat. Diesen Hintergrund sollte man einigermaßen vor Augen haben, um die Brisanz zu verstehen.
Nun ist es natürlich nicht so, dass das Referat von 1972 das Drehbuch für die folgenden Entwicklungen war. Falcke hatte die Themen der Freiheit, aber auch des Leistungsdrucks, der Ungleichheit, der Umweltprobleme, des bedrohten Friedens und der fehlenden Öffentlichkeit benannt. So war eine Grundlage geschaffen für die vielfältigen Gruppen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren meist unter dem Dach der Kirche entstanden. Viele begannen als Umweltgruppen. Die Auswirkungen der Braunkohlenutzung waren überall zu sehen, zu riechen und im Krupphusten der Kinder zu hören. Da war der Uranabbau der Wismut nur die Spitze des Eisberges. Mit der Zeit politisierten sich diese Gruppen zum Teil – nicht zuletzt auch durch die Repression des Staates.
Nun war es nicht so, dass alle in der Kirche begeistert waren, dass diese Gruppen den relativen Freiraum der Kirchen nutzten. Hier war es wiederum Heino Falcke in Fortführung der Linie von 1972, der diese Gruppen als legitime Formen der Kirche, als eine besondere ekklesiologische Gestalt wahrnahm und theologisch qualifizierte. So entstand zumindest eine begrenzte Öffentlichkeit, in der die drängenden Fragen der Menschenrechte, des Friedens, der weltweiten Gerechtigkeit, des Umweltschutzes und der Gleichberechtigung der Geschlechter diskutiert und propagiert werden konnten.
Heino Falcke war selbst Delegierter bei der VI. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen 1983 in Vancouver, wo er den Antrag der Evangelischen Kirchen der DDR zur Vorbereitung eines Friedenskonzils angesichts der atomaren Hochrüstung einbrachte. Daraus entwickelte sich das weltweite Konzept der Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung (ÖV). 1988/89 fanden in der DDR drei große Versammlungen mit Beteiligung fast aller Kirchen statt, – in Magdeburg, Dresden und nochmals Magdeburg – deren stellvertretender Vorsitzender Heino Falcke war.
In den Texten der ÖV ging es explizit um die Situation in der DDR: Meinungsfreiheit, Umweltprobleme, Abschreckungspolitik, Menschenrechte etc. Die Entwürfe wurden massenhaft angefordert und es gab zahlreiche Rückmeldungen. Das war wohl das demokratischste Ereignis, das es in der DDR vor dem Herbst 1989 überhaupt gab.
Dies wurde auf drei Ebenen für die Friedliche Revolution wichtig: Zum einen wurden die Themen und Texte inhaltlich aufgegriffen. Sie waren teilweise die Grundlage für politische Forderungen und tauchten in Texten der sich dann bildenden politischen Organisationen und Parteien auf. Zum anderen waren viele Akteure und Akteurinnen der Gruppen und der ÖV Protagonisten der Friedlichen Revolution und schließlich haben zumindest einige Beteiligte wichtige Funktionen in der Phase der Runden Tische übernommen.
Die Leitbegriffe der Ökumenischen Versammlung tauchen dann in einigen Verfassungen der neuen Länder auf. In Sachsen fast wörtlich „…der Gerechtigkeit, dem Frieden und der Bewahrung der Schöpfung zu dienen“, aber auch in Thüringen der Sache in der Zielbestimmung „…Freiheit und Würde des einzelnen zu achten, das Gemeinschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu ordnen, Natur und Umwelt zu bewahren und zu schützen, der Verantwortung für zukünftige Generationen gerecht zu werden, inneren wie äußeren Frieden zu fördern…“.
Insofern ist es in der Tat eine beeindruckende Wirkungsgeschichte von der theologischen Einsicht „Christus befreit – darum Kirche für andere“ zur Wiedergewinnung der politischen Freiheit 1989. Aber auch der demokratische, liberale Rechtstaat bleibt in dieser (theologischen) Perspektive verbesserlich…
Foto: Heino Falcke, 2010, Foto: Der wahre Jakob, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.
Übrigens: Am Donnerstag, 30. Juni 2022, findet anlässlich des 50. Jahrestages von Heino Falckes Vortrag die Gedenkveranstaltung "Kirche für andere" im Augustinerkloster Erfurt statt.