Mehr Harmonie!

Einblicke

Wenn Kinder zweisprachig aufwachsen und nicht so gut sprechen, wie sich die Eltern das wünschen, wird das häufig darauf zurückgeführt, dass die betroffenen Mädchen und Jungen eben zwei Sprachen lernen und sich sprachlich deshalb langsamer entwickeln. Meist wird dieses langsamere Lernen als Problem wahrgenommen und unmittelbar in den Zusammenhang mit der Mehrsprachigkeit gebracht. Kinderärzte und Pädagogen, die durch ihre tägliche Arbeit mit Kleinkindern den unmittelbaren Vergleich bezüglich der kindlichen Entwicklung haben, stellen womöglich sprachliche Defizite fest und die Eltern fragen sich dann, was sie im Alltag falsch machen. Häufig fühlt sich ein Elternteil sogar von seinem Kind emotional distanziert, wenn es seine eigene Sprache ist, die das Kind nicht wie erhofft spricht. Ein Kind bilingual aufzuziehen, kann also ein Unwohlsein in der Familie aufkommen lassen, das es bei einer einsprachigen Erziehung nicht gäbe. Die sprachliche Entwicklung verläuft damit sozusagen unharmonisch. Aber es gibt auch Familien, in denen die Mehrsprachigkeit gar nicht thematisiert wird, in denen sie positiv und als selbstverständlich wahrgenommen wird und in denen Probleme, die es im dynamischen System der Familie natürlicherweise gibt, nicht auf die Sprache(n) zurückgeführt werden. Dies nennt man eine „harmonische bilinguale Entwicklung“. Annick De Houwer, Professorin für Spracherwerb und Mehrsprachigkeit an der Universität Erfurt, hat das Thema als Forschungsgegenstand identifiziert und untersucht in mehreren Projekten und im Rahmen des Netzwerks „Harmonious Bilingualism Network“ (HaBilNet) das Wohlbefinden von Kindern und Eltern in einer mehrsprachigen Umgebung.

Prof. Dr. Annik de Houwer
Prof. Dr. Annik de Houwer

Bereits seit 2006 beschäftigt sich Annick De Houwer mit diesem Herzensthema. Als Linguistin ist es ihr wichtig, Kinder nicht nur als Sprachlerner, und Sprache nicht nur als Struktur zu betrachten, sondern dabei auch eine ethische, moralische und soziale Perspektive auf den Menschen einzunehmen. „Ich möchte verstehen, welche positiven und negativen Faktoren dem Erwerb von mehreren Sprachen zugrunde liegen. Das Wohlbefinden ist so ein Faktor und wurde bisher erst wenig erforscht“, sagt die Professorin. In ihrer langen Erfahrung als Sprachwissenschaftlerin, die sich mit Mehrsprachigkeit auseinandersetzt, hat sie zahlreiche Gespräche mit mehrsprachigen Familien geführt. Sie bemerkte, was für ein emotionales Thema der Spracherwerb in diesen Familien sein kann und dass – ganz unabhängig von Herkunft, Einkommen und sozialem Hintergrund – immer wieder Gefühle der Macht- und Hilflosigkeit mit der Erfahrung von Zweisprachigkeit einhergehen. De Houwer möchte diesen Unsicherheiten mit ihrem fachlichen Wissen begegnen und mehrsprachigen Familien dabei helfen, ein harmonischeres Verhältnis zur zweisprachigen Entwicklung ihrer Kinder zu finden. Ergebnisse aus ihren verschiedenen Forschungen sind ihr dabei ein wichtiges Instrument. Für ihre aktuelle Studie beispielsweise erhebt De Houwer gemeinsam mit ihrer Doktorandin Bianca Mohr und einem Team von Hilfskräften in drei Intervallen Daten von Kleinkindern, die entweder deutsch-polnisch oder deutsch-englisch aufwachsen.

„Wir schauen, wie sich diese Kinder auf der sprachlichen Ebene entwickeln und wie ihr Wohlbefinden von der Umgebung – also von den Eltern, den Großeltern und Kitafachkräften – beurteilt wird“, erläutert De Houwer. „Um eine genaue Einschätzung zu bekommen, erheben wir zunächst Daten, wenn das Kind zwei Jahre alt ist, dann erneut, wenn es zwei Jahre und neun Monate alt ist, und ein drittes Mal, sobald es dreieinhalb Jahre alt ist. Dabei untersuchen wir, wie sich der Wortschatz des Kindes in den beiden Sprachen entwickelt hat. Zudem befragen wir das Umfeld des Kindes mittels des sogenannten SDQ-Fragebogens (Strengths-and-Difficulties-Questionnaire), der weltweit als Instrument zur Untersuchung von Wohlbefinden genutzt wird.“ De Houwer hat sich dabei aus zwei Gründen für Englisch und Polnisch als Gegenstand der Untersuchungen entschieden: Einerseits findet sie den Statusunterschied der beiden Sprachen interessant – Englisch wird selbst von den Polnisch Sprechenden als höherwertig angesehen. Abgesehen von diesem Statusunterschied, gibt es zweitens kaum ein anderes Merkmal, an dem man einen polnisch- oder englischsprachigen Menschen auf der Straße erkennen würde, anders als es zum Beispiel bei einer Hindi oder Japanisch sprechenden Familie der Fall wäre. „Mein Anliegen war es, Gruppen zu finden, die abgesehen von der Sprache so vergleichbar wie möglich sind.“ Die Forscherin sucht nun in diesen beiden Gruppen nach Zusammenhängen zwischen dem Wohlbefinden und den sprachlichen Fähigkeiten des Kindes in beiden Sprachen: Sprechen die Kinder wirklich zwei Sprachen oder verstehen sie die Wörter einer der beiden Sprachen nur, benutzen sie aber selbst nicht, was einer niedrigeren sprachlichen Entwicklungsstufe entspricht? Hängt die Fähigkeit, beide Sprachen zu sprechen, mit einem besseren Wohlbefinden der Eltern und der Kinder zusammen? Welche Auswirkungen hat es auf das dynamische System der Familie, in dem jeder den anderen beeinflusst, wenn das Kind diesbezüglich als „Problemkind“ eingestuft wird? Wer fühlt sich schlecht dabei? Und können Elemente der mehrsprachigen Entwicklung damit in Zusammenhang gebracht werden? Diesen Fragen soll die Untersuchung auf den Grund gehen. „Dabei muss man wissen, dass es leider ziemlich normal ist, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder, wenn sie etwas älter sind, nur eine Sprache sprechen. Das habe ich in einer früheren Studie mit 5.335 mehrsprachig aufwachsenden Kindern, die ich in Belgien durchgeführt habe, bereits gezeigt – ein Viertel der Kinder sprach nur die Schulsprache. Andere Studien belegen, dass die Eltern das schrecklich finden.“ Angenommen also, ein Kind wächst mit einer polnischen Mutter und einem deutschen Vater in Deutschland auf. Sobald es in eine deutschsprachige Kindertagesstätte geht, wird das Kind vielleicht kein Polnisch mehr reden wollen. Dann kommt es vor, dass das Kind in Gesprächen mit der Mutter Deutsch spricht und die Mutter weiterhin Polnisch. Studien in den USA haben gezeigt, dass die Eltern durch solche sprachlich divergenten Gespräche ihrer Autorität weniger Ausdruck verleihen können und dass die Kinder zum Teil eine große emotionale Distanz den Eltern gegenüber entwickeln. „Für die Dynamik in der Familie“, so De Houwer, „ist es also sehr wichtig, dass Kinder und Eltern die gleiche Sprache miteinander sprechen. In einer weiteren belgischen Studie konnte ich zeigen, dass 20-Monate alte Kinder, die französisch-niederländisch aufwachsen, viele Wörter in beiden Sprachen sagen konnten. Aber mit vier Jahren hat ein Drittel der Kinder nur noch eine Sprache, nämlich die Kindergarten-Sprache gesprochen. Das sind keine lernbehinderten oder tauben Kinder, denn die andere Sprache hat sich völlig normal entwickelt, die zweite Sprache aber leider nicht.“ Dass dies die Eltern-Kind-Beziehung beeinträchtigen kann, ist für De Houwer nicht wünschenswert. Schließlich sei eine gemeinsame Sprache ein wichtiges Mittel zur Bindung zwischen Eltern und Kind. Sprache habe eine emotionale Bedeutung und sei auch Teil der kindlichen Kultur, weil eben ein bestimmtes Verhältnis damit einhergehe.

Wie sich dieses Verhältnis in mehrsprachigen Familien gestaltet, wird sich nach der genauen Analyse der in den vergangenen dreieinhalb Jahren erhobenen Daten zeigen. Bisher konnten die Sprachforscher bereits sehen, dass der Wohnort eine große Rolle bei der Ausprägung der beiden Sprachen spielt: In Deutschland verstehen deutsch-englisch aufwachsende Kinder beispielsweise zwar viele englische Wörter, können aber das deutsche Pendant auch selbst nutzen. Bei in Großbritannien zweisprachig aufwachsenden Kindern ist es umgekehrt. Wie das nun das Wohlbefinden der Familienmitglieder beeinflusst, das untersuchen die Forscherinnen im nächsten Schritt. Eltern, die sehr viel Wert auf eine gleichwertige Weiterentwicklung beider Sprachen bei ihren Kindern legen, kann die Sprachwissenschaftlerin aber ganz unabhängig von ihrer momentanen Forschung einen fachlichen Rat geben: „Wichtig sind Qualität und Quantität der Sprache. Also: Viel mit einem Kind zu sprechen, hilft viel in der sprachlichen Entwicklung. Ein reiches Sprachangebot ist eine wichtige Bildungsquelle sowohl für einsprachige als auch für zweisprachige Kinder. Denn die Bildungschance liegt zum großen Teil im Wortschatz!“