Seit vielen Wochen müssen Gläubige nun schon auf kirchliche und pastorale Angebote verzichten. Was kann es da bedeuten, wenn Menschen auch langfristig erkennen, dass ein Leben ganz ohne Kirche möglich ist – genauso wie etwa ohne den Sport- oder Freizeitverein? Für die Pastoraltheologin Prof. Dr. Maria Widl von der Universität Erfurt zeigt sich in dieser Frage eine Gratwanderung im Verständnis von Kirche: Sie darf bei aller Relevanz des Gemeinschaftswesens nicht als “Vereinskultur” begriffen werden. Über pastorale Angebote in Zeiten der Pandemie sprachen sie und Matthias Kugler, Diakon in Saalfeld/Rudolstadt, jetzt im Podcast “Hörenswertes im Bistum Erfurt”…
Seelsorgliche Gespräche, Abende für Eltern von Erst-Kommunion-Kindern, Gruppenstunden – die strengen Hygienevorschriften unter den Vorzeichen von Corona sorgen dafür, dass derzeit zahlreiche seelsorgliche Dienste entfallen. Mit medialen Angeboten versucht die Pastoral Lücken zu schließen. Und tatsächlich schafft sie es damit sogar neue Zielgruppen zu erreichen: Bei digitalen Gottesdiensten in Saalfeld/Rudolstadt etwa, bei denen Gemeindemitglieder zur Teilnahme mittels eigener Videobeiträge aufgerufen worden waren, habe es einen „großen Schub an Beteiligung gegeben“, erzählt Matthias Kugler. Auffällig dabei sei gewesen, dass Beiträge insbesondere von jenen Menschen kamen, die sich sonst gar nicht allzu stark am Gemeindeleben beteiligten.
Dennoch gibt Kugler zu bedenken, dass man mit medialen Angeboten auch immer gewisse Gruppen ausschließe, nämlich solche, die keine Affinität oder schlicht nicht die technischen Möglichkeiten zur digitalen Teilnahme haben. Und auch die real erfahrbare Gemeinschaft – deren Wichtigkeit sich gerade in Zeiten des “Social Distancing” in allen Lebensbereichen deutlich zeige – bleibe damit aus, auch wenn im Netz die Gemeinde vielleicht enger zusammenrückt.
“Kirchliches Leben ist ganz maßgeblich durch Gemeinschaftserfahrung geprägt”, sagt Maria Widl. “Die Erfahrung des sozialen Zusammenhaltes und des sozialen Miteinanders ist das, was für Menschen am prägendsten ist. Das ist eine enorme Stärke, aber natürlich auch ein großes Fragezeichen, weil man die Grenze zwischen dem Miteinander-in-Jesus-Christus-Einssein auf der einen Seite, und dem ‘Vereinsleben’ und der Geselligkeitsform, was eine ‘Wellnesskultur’ darstellen könnte, auf der anderen Seite hat – das ist eine Gratwanderung.”
Dabei habe Kirche gerade in Zeiten der Katastrophen viel mehr zu bieten, als eine etwaige “Wellnesskultur” erörtert die Theologin weiter: “Wenn es Katastrophen gibt, wie damals den Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium, können die Kirchen eine gute Form finden, kulturelle Trauer und Anteilnahme zu gestalten. Wie es damals die sogenannte ‘Flüchtlingskrise’ gab, konnten die Kirchen umstandslos gute Formen der Hilfe für die Menschen organisieren und ein gutes Klima der Solidarität mit schaffen.”
Um ein solches Klima stützen zu können, müsste die Kirchen aber auch immer große Kulturentwicklungen im Blick behalten und Andersdenkende anerkennen: “Das war immer eine Stärke des Christentums, nicht nur private Gläubigkeit, sondern auch Kulturentwicklung im Blick zu haben”, betont Widl. “Wenn wir weiterhin so sorgsam die Sorgen und Nöte der Menschen im Blick haben […]; wenn wir vielleicht auch stärker in den Blick bekommen – und dafür wäre die Coronakrise eine gute Gelegenheit –, dass wir zusammen stellvertretend das Gotteslob anstimmen – und zwar nicht nur stellvertretend für die paar Kranken und Alten, die heute nicht beim Gottesdienst dabei sein können, sondern stellvertretend für alle, die hier wohnen –, das würde ich mir wünschen”.