"Ego Development und Konzeptualisierung von auf Inklusion bezogenen Handlungsmöglichkeiten bei Studierenden erziehungswissenschaftlicher Studiengänge an der Universität Erfurt" – unter diesem Titel hat Alexander Leuthold jetzt an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Erfurt seine Dissertation veröffentlicht. Er untersucht darin den Zusammenhang von Persönlichkeitsreife und der Professionalisierung von Pädagog*innen.
„Die Idee zu dieser Arbeit entstand gewissermaßen als logische Konsequenz meines Eintretens in die akademische Welt der Sonderpädagogik“, erklärt Leuthold, der 2013 an die Universität Erfurt, genauer gesagt an das Fachgebiet Sonder- und Sozialpädagogik kam, um hier in Sonderpädagogischer Psychologie zu unterrichten. „Ich hatte zuvor noch nie eine Vorlesung an einer Universität gehalten und war vornehmlich damit beschäftigt, einen guten Weg zu finden, (mein) psychologisches Wissen und meine (kinder- und jugend-)psychotherapeutische Erfahrung auf das Gebiet der Sonderpädagogik zu beziehen. Ich kam ja damals gewissermaßen mit einer Außenperspektive in die Sonderpädagogik. In der Disziplin war seit Jahrzehnten um das Thema Integration gerungen worden – heute wird der Integration die Inklusion als Begriff gegenübergestellt. Damals schien mir jedenfalls Inklusion in aller Munde zu sein, ohne dass es mir selbst wirklich gelungen wäre, zu erfassen, was konkret darunter verstanden wurde, geschweige denn welche Handlungsimplikationen mit der Ausrichtung auf Inklusion einhergehen sollten. Es fehlte mir also an Orientierung, um ausgehend von meinem eher psychologisch-therapeutischen Erfahrungshintergrund in der wissenschaftlichen Disziplin der Sonderpädagogik angemessen navigieren zu können. Ich war schlicht nicht voll anschlussfähig und so suchte ich einerseits nach einer Möglichkeit, den subjektiv erlebten ‚blinden Fleck‘ zu erhellen und andererseits zur Ausbildung Studierender und zur Entwicklung von pädagogisch handelnden Persönlichkeiten beizutragen.“
"Inklusion ist nicht voraussetzungslos.“ So lautet die zentrale These der Arbeit von Alexander Leuthold. Oder anders: Eine Restrukturierung des Systems institutioneller Erziehung und Bildung in der Bundesrepublik Deutschland unter dem Leitbild der Inklusion kann nicht losgelöst von der Frage betrachtet werden, welche Verständnisweisen, Weltsichten, Fähigkeiten (angehende) Pädagog*innen in die Lage versetzen, diesem Auftrag gerecht zu werden – und wie diese Fähigkeiten gegebenenfalls herausgebildet werden können. Um dies zu belegen bzw. zu untersuchen, stellte Leuthold den 137 Studierenden aus seiner Vorlesung zur Einführung in die Sonderpädagogische Psychologie zwei Aufgaben: Die erste bestand darin, zu beschreiben, wie sie sich ihre Arbeit als Inklusionsbeauftragte vorstellen würden – unter der fiktiven Annahme, dass sie mit unbegrenzter administrativer Macht ausgestattet sind, also etwa so: „Sie sind der/ die ‚Inklusionsbeauftragte Erfurt‘ [….] Alle Ihre Entscheidungen können ohne Verzögerung durch Anhörungen oder Genehmigungsverfahren sofort umgesetzt werden.“ Im zweiten Schritt sollten die Studierenden einen Satzergänzungstest absolvieren. Dieser diente dazu, die Ich-Entwicklungsstufe (also den Grad der Persönlichkeitsreife) der am Test Teilnehmenden zu ermitteln.
„Ich habe dann die Ausarbeitungen zur Inklusionsbeauftragten-Aufgabe nach vier verschiedenen Ich-Entwicklungsstufen sortiert, getrennt analysiert und je Ich-Entwicklungsstufe eine Inklusions-Handlungslogik herausgearbeitet“, erläutert Alexander Leuthold, der davon ausging, dass die Studierendenschaft, die er untersucht hat (aber auch die Angehörigen der Profession insgesamt, also auch die Berufserfahrenen, die jedoch in seiner Arbeit nicht untersucht wurden) hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsreife eine ausgesprochen heterogene Gruppe sind. Infolge dessen, so die Annahme, müssten also auch ihr Verständnis von Inklusion und die darauf bezogenen Handlungsansätze deutliche qualitative Unterschiede aufweisen. So deutlich, dass sie nicht anders als als qualitative Sprünge, also als Entwicklungsschritte, verstanden werden können, also durchaus vergleichbar den qualitativen Sprüngen in der motorischen Entwicklung (liegen, sitzen, krabbeln, stehen, gehen, …).
Leutholds These sollte sich bestätigen: Er konnte in der nun vorliegenden Arbeit eben jene qualitativen Unterschiede herausarbeiten und beschreiben. Und mehr noch: Der Psychologe konnte zeigen, dass die sogenannte Ich-Entwicklungs-Perspektive, die als Dimension der Heterogenität bislang völlig vernachlässigt wurde, eine große Bedeutung für die Ausbildung und Professionalisierung von Pädagog*innen hat: „Der von mir entwickelten Aufgabenstellung unterliegt ein für universitäre Bildung typisches Grundmuster, das auch typisch für Anforderungen im beruflichen Alltag von Pädagoginnen ist: ‚Erläutern Sie Ihr Verständnis von X [abstrakter Begriff, im vorliegenden Fall ‚Inklusion‘], entwickeln Sie darauf bezogene Handlungsansätze und begründen Sie diese!‘ Diese Aufgabe konnte jedoch erst ab einer gewissen Entwicklungsstufe, der sogenannten eigenbestimmten Stufe (E6) stringent und nachvollziehbar erfüllt werden. Diese (oder eine spätere) Entwicklungsstufe erreichen aber nur knapp 40 Prozent unserer Studierenden, was an anderen Unis nicht wesentlich anders sein dürfte. Wenn nun Hochschulbildung konsequent diese Entwicklungsstufe adressiert, indem sie entsprechende Anforderungen stellt, dann werden diejenigen Studierenden ‚ausgeschlossen‘, die dort noch nicht sind (in diesem Fall rund 60 Prozent meiner Stichprobe). Mit anderen Worten, das Studium der (inklusiven) Pädagogik wäre demnach nicht inklusiv sondern exkludierend angelegt.“ Insofern bedeuten die Ergebnisse der Dissertation von Alexander Leuthold für die Ausbildung angehender Pädagog*innen eine ganz neue Herausforderung.
Apropos Herausforderung: Was war denn die ganz persönliche Herausforderung bei dieser Promotion? „Nun ja, zum einen, dass sie praktisch mein ‚Privatvergnügen‘ war, sprich: ich sie neben meiner Arbeit als niedergelassener Psychotherapeut und neun Semesterwochenstunden Lehre an der Uni stemmen musste. Das hat mein Durchhaltevermögen ganz schön auf die Probe gestellt.“ Zugleich war Alexander Leuthold wohl der erste Promovend der Universität Erfurt, der seine Dissertation online verteidigen musste, weil sämtliche Präsenzveranstaltungen im Sommersemester 2020 abgesagt waren. Corona macht eben auch vor der Wissenschaft nicht Halt… Dafür dürfte der „frisch gebackene Doktor“ jetzt wieder mehr „Tagesfreizeit“ haben, oder? „Nicht wirklich“, winkt Leuthold ab. „Ich habe vor, auf Basis meiner Dissertation ein Buch zu veröffentlichen, das die Ergebnisse meiner Forschung zum einen für ein breiteres Fachpublikum aufbereitet und meine Arbeit zugleich weiterführt, so dass die Bedeutung der Ich-Entwicklungsperspektive für den bildungswissenschaftlichen Diskurs im Bereich Hochschulbildung und Professionalisierung von Pädagoginnen deutlicher hervortritt und leichter nachvollziehbar wird. Das wird noch einmal viel Arbeit werden.“
Wenn man aber davon ausgeht, dass Wissenschaftler von Natur aus neugierig sind, dann wird die (Fach-)Welt sicher in dieser Sache wieder von Alexander Leuthold hören….