„Ein wichtiger Baustein für das ‚ostdeutsche Gedächtnis‘“

Vorgestellt

Was hast Du damals erlebt? – diese einfache Frage revolutionierte die Geschichtswissenschaft. „Na gut, das ist vielleicht doch zu hoch gegriffen“, lacht Agnès Arp. „Aber zumindest liegt in dieser Frage eine große Kraft und das Potenzial, der Geschichte ganz unerwartete Dimensionen hinzuzufügen.“ Die französische Historikerin spricht seit mehr als 20 Jahren mit Ostdeutschen über deren Erlebnisse vor, während und nach dem Fall der Mauer. Nun soll sie an der Universität Erfurt eine Forschungsstelle für „Oral History“ – also für die mündlich überlieferte Geschichte – mit Fokus auf die Transformationsgeschichte Ostdeutschlands aufbauen.

Dr. Agnès Arp
Dr. Agnès Arp

Agnès Arp war 16 Jahre alt und lebte in Paris, als über die Fernsehbildschirme weltweit der Fall der Mauer flimmerte. Es sind einprägsame Bilder, die auch die junge Französin faszinierten und immer wieder beschäftigten. Wer sind diese Europäer, mit denen sie noch nie Kontakt hatte? Wie haben sie bisher hinter dem „Eisernen Vorhang“ gelebt? Und wie gehen sie damit um, plötzlich in einer komplett anderen Gesellschaft zu leben? Mit ihrem Schuldeutsch und einer Fotokamera im Gepäck machte sie sich irgendwann auf, um Antworten auf diese Fragen zu suchen. Sie bereiste Ostdeutschland und Osteuropa, traf die Menschen vor Ort, machte Fotoreportagen über sie. Als sie nach einem Geschichtsstudium schließlich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena bei dem Oral History-Experten Lutz Niethammer promovierte, wurde ihre Leidenschaft für die erzählte Geschichte geweckt. „Irgendwann tauschte ich dann den Fotoapparat gegen ein Aufnahmegerät“, erinnert sich Arp. Sie erkannte, wie wichtig es den Menschen war, gehört zu werden und ihre eigene Geschichte zu erzählen – fernab von der damals häufig verbreiteten Meinung „In der DDR war alles schlecht und jetzt ist alles besser“. Dass sie als Französin eine Außenstehende der deutschen Geschichte ist, half ihr dabei ungemein weiter und machte viele Gespräche überhaupt erst möglich. So führte die Historikerin hunderte von Interviews und gab den Betroffenen der „Wende“ damit das Gefühl, dass ihre Lebenswege ernst genommen werden und eine Bedeutung für die Geschichtsschreibung haben.

Und genau das ist ihr eine Herzensangelegenheit. Nicht nur in ihren eigenen Forschungsprojekten – zuletzt untersuchte sie die Geschichte der Psychotherapie in der DDR –, sondern auch und vor allem beim Aufbau der Forschungsstelle für Oral History an der Universität Erfurt. „Oral History begann als Bewegung in den 1960er-Jahren. In der Nachkriegszeit wuchs eine Generation heran, die wissen wollte, was ihre Eltern und Großeltern erlebt haben und warum sie wie gehandelt haben. In postdiktatorischen Staaten stieg das Interesse an der mündlichen Geschichte“, erzählt Arp. „Denn sie eröffnet einen anderen Zugang zu Erfahrungen und Wahrnehmungen und fügt einer Transformationsgeschichte Biografien hinzu, um so der Komplexität der Ereignisse noch stärker Rechnung zu tragen. Gerade auch was die Geschichte der DDR angeht, sind lebensgeschichtliche Interviews deshalb ein wichtiger Baustein für das ‚ostdeutsche Gedächtnis‘“, ist Arp überzeugt. Wie sie arbeiten deshalb auch viele andere Forscherinnen und Forscher mit dieser Methode – oft ohne wirklich gelernt zu haben, wie man diese Interviews überhaupt führt, und ohne zu wissen, was man mit den Aufnahmen letztlich macht. „Die meisten Aufnahmen landen irgendwann schlicht in einer Schublade“, weiß Agnès Arp auch aus eigener Erfahrung.

Beide Punkte geht die neue Forschungsstelle nun an. Denn neben der Forschung selbst wird sich die Einrichtung auch der Vermittlung und der Bewahrung widmen. So soll sie Wissenschaftler*innen, Schüler*innen und anderen Interessierten die Methode der Oral History, also das Führen und Auswerten von lebensgeschichtlichen Interviews, vermitteln sowie Interviewern, die sich mit der DDR-Geschichte befassen, eine Möglichkeit bieten, ihr Material professionell zu archivieren und je nach Wunsch auch anderen Forscher*innen zur Verfügung zu stellen. Arps eigene Aufnahmen machen dabei den Anfang und die Historikerin hofft auf die Zusammenarbeit mit weiteren Projekten. Dafür hat sich Agnès Arp schon eine lange To-do-Liste gemacht: sichtbar werden, netzwerken, Gespräche initiieren, erste Interviews standardgemäß archivieren, erste Anfragen bearbeiten – und nebenbei natürlich, wie sie es nennt, „Kulissenarbeit“ betreiben und die eigentlichen Strukturen der Forschungsstelle aufbauen. Ganz oben auf ihrer Liste steht aber eines: erreichbar sein – für alle, die Unterstützung oder Knowhow brauchen. „Das ist mir wichtig. Man soll wissen, dass man mich immer antreffen kann!“

Weitere Informationen / Kontakt:

Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin der Oral-History-Forschungsstelle
(Philosophische Fakultät)
Steinplatz 2 / 4te Etage
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Sprechstunde (mit schriftlicher Voranmeldung): Dienstags 11-15 Uhr
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