„Die Niederländer sind feige und hauen immer vor den Franzosen ab.“ So steht es sinngemäß in den Tagebüchern des Gothaer Leutnants Friedrich A. Rauch, einem Berufssoldaten, der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Armee des Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg diente und vor allem durch seine Teilnahme am kleinen Wasunger Krieg bekannt wurde. Seine Aufzeichnungen sind wie die anderer Soldaten und Zeitgenossen ein wichtiges historisches Mittel für die Rekonstruktion militärischer Wissenskulturen und ein Zeugnis davon, wie Wissen allgemein im 17. und 18. Jahrhundert zirkulierte. Wer brachte wohin welches Wissen mit, woher stammte dieses Wissen, welches Wissen kam hinzu und wie wurde dies wiederum verbreitet? Mit solchen Fragen beschäftigt sich Michael Schwarz derzeit intensiv. Der Historiker promoviert im Rahmen des Promotions- und Postdoktorandenprogramms „Wissensgeschichte der Neuzeit“ der Universität Erfurt zu militärischen Wissenskulturen am Beispiel des Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg.
„Militärische Wissenskulturen meint die Einbettung militärischen Wissens in kulturelle Praktiken und politische und wirtschaftliche Kontexte“, erklärt Schwarz förmlich. „Vereinfacht kann man das an einem Beispiel erläutern: Wenn ein Schneider oder Schuster ins Militär eintritt – und diese Berufsgruppen waren sehr begehrt – dann bringt er ein bestimmtes Berufswissen sowie ein lokales Wissen über die Stadt und die Region, aus der er stammt, mit. Dazu nimmt er wiederum Wissen von seinen Kameraden auf, aber auch Details über den Stationierungsort, die Alltäglichkeiten und die Menschen dort. Dieses Wissen könnte er dann weitergeben – an Kameraden oder an den Sohn.“ Militärisches Wissen beschränkt sich also nicht nur auf die Kriegsführung, sondern hat mehrere Facetten – von ganz alltäglichen Dingen wie dem Kochen bis hin zum rein Militärischen wie dem Drill. Und es ist an eine bestimmte Umgebung gekoppelt und bildet aus verschiedenen Wissenssträngen ein Netzwerk, über das Wissen weitergeleitet wird. Schwarz untersucht genau dieses Wissensgeflecht am Beispiel des Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg in der Zeit zwischen 1670 und 1770. Er möchte herausfinden, wie dort militärisches Wissen in verschiedenen Kontexten zirkulierte. Dabei nimmt er einerseits die Stadt und das Land in den Fokus: „Wer hatte Anbindung an das Militär und welche Arbeitsplätze waren daran gekoppelt? Viele Bürger waren zu der Zeit ja nur Teilzeit-Soldaten“, sagt Schwarz, „übten also nebenbei einen anderen Beruf aus. Welche Rolle spielte das Militär in ihrem anderen Beruf?“ Der Doktorand untersucht nicht nur, wie sich Wissensinhalte zwischen den bürgerlichen, zivilen Berufen und den militärischen verbreitete, sondern auch welche Warnsignale es gab, wenn sich eine Armee näherte oder wie die Obrigkeit im Land und in der Stadt rekrutierte. Anderseits untersucht der Masterabsolvent der Universität Erfurt natürlich auch, welche Rolle das militärische Wissen am Gothaer Hof selbst spielte, also dort, wo es vor allem um Kosten und Prestige geht. Dass sich Schwarz ausgerechnet dieses Beispiel herausgesucht hat, liegt nicht nur an der unmittelbaren Nähe zu den Originalquellen, die er in Gotha vorfindet, sondern auch daran, dass eine spezielle Tatsache überhaupt erst einmal sein Interesse an dem Forschungsgebiet weckte: Um 1700 wies das Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg mit 10.000 Mann bei ca. 150.000 Einwohnern nämlich einen höheren Militarisierungsgrad als beispielsweise Brandenburg-Preußen auf. Gotha stellte im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung sehr viele Soldaten an, und das obwohl das Herzogtum kaum direkt im Krieg war. Aber was war dann der Hintergrund dieser Politik? „Sachsen-Gotha-Altenburg betrieb den sogenannten Subsidienhandel mit Soldaten“, weiß Schwarz. „Das heißt, der Herzog überließ anderen Fürsten, die in den Krieg zogen, seine Truppen und erhielt dafür Geld oder politische Unterstützung. Dadurch war das Gothaer Herzogtum indirekt in sehr viele Kriege verwickelt, vor allem gegen Frankreich. Das wiederum war sehr wichtig für das Prestige, denn wenn man selbst keinen Krieg führte, musste man trotzdem politisch irgendetwas vorweisen können.“ So verlieh Gotha seit dem späten 17. Jahrhundert immer wieder Kavallerie- und Infanterietruppen an den Kaiser und ins Ausland, wobei die Soldaten nicht ununterbrochen in der Ferne dienten, sondern Anspruch auf Heimaturlaub hatten und häufig nach einer gewissen Zeit ausgetauscht wurden. Die Preise und Bedingungen für den Handel wurden jeweils für den einzelnen Einsatz ausgemacht und vertraglich festgehalten. Beispielsweise gingen 1734 etwa 5.000 Soldaten für 120.000 Gulden in den Dienst des Kaisers, der Kriege gegen die Franzosen führte. Im Siebenjährigen Krieg verlieh der Gothaer Hof sogar an beide Kriegsgegner Truppen, auch um sich den Unterhalt über diesen Zeitraum zu sparen und um – jedoch erfolglos – selbst vom Kriegsgeschehen verschont zu bleiben.
Die historischen Akten zeigen, dass Gotha mit seiner Subsidienstrategie relativ erfolgreich war und mit den Einnahmen aus dem Soldatenhandel wahrscheinlich seine Truppen weiter verstärken oder den Hof ausbauen konnte. „Es ging dabei aber nicht nur ums Geld, sondern man wollte auch politisch ein gutes Geschäft machen. Für die Überlassung von Soldaten gab es auch schon einmal einen Titel, zum Beispiel 1691, als Friedrich I. und seine Nachfahren sich für die Überlassung von zwei Regimentern an den Kaiser fortan als ‚Durchlaucht‘ bezeichnen durften.“ Der Gothaer Hof machte aber nicht nur mit dem Kaiser regelmäßig Geschäfte, sondern häufig auch mit den Niederlanden. Immer wieder schickte der Hof Soldaten ins heutige Nachbarland, ab 1744 stand ein Gothaer Regiment sogar ständig im holländischen Dienst – kommandiert von je einem der Prinzen aus Sachsen-Gotha-Altenburg. Leutnant Rauch selbst war nie in den Niederlanden stationiert. Aber er hatte scheinbar gute Kontakte zu Soldaten, die dort dienten. Dass er auch deren Erfahrungen mit seinen Tagebucheinträgen weitergab, zeigt gut, wie stark der Subsidienhandel des Gothaer Hofes auch die Zirkulation von Wissen mitprägte. Denn mit dem Auswärtseinsatz erlangten die Soldaten neue Erfahrungs- und damit Wissensdimensionen, die häufig auch geteilt wurden – nicht nur in Schriftform, sondern auch mündlich. Denn wie die offiziellen, schriftlichen Mittel der Wissenszirkulation, also Zeitschriften, Anschläge, Verkündigungen und Dienstvorschriften war auch beim militärischen Wissen das Gerücht ein äußerst wichtiges Medium. Ihre meist mündliche Form erschwert es Forschern wie Michael Schwarz heute allerdings, sie überhaupt ausfindig zu machen und ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Aber in ihnen spiegeln sich genauso die kulturellen Praktiken wider, die Schwarz interessieren. „Bei der Wissenszirkulation geht es nicht allein um Wissensinhalte, sondern immer auch um Praktiken. Inhalte allein machen ja nichts, man braucht Menschen, die Wissen aufnehmen und mündlich oder schriftlich weitergeben.“ Dass der Soldat Rauch seine Eindrücke in seinem Tagebuch schriftlich festhielt und diese sich wahrscheinlich mündlich verbreiteten, macht es Schwarz auch nicht einfacher bei seinen Recherchen. Subjektive Wahrnehmung und tatsächliche Begebenheiten unterscheiden sich nämlich immer wieder: „Es ist spannend, Archivmaterial zu lesen und dann mit anderen Aufzeichnungen desselben Sachverhaltes zu vergleichen. Auf der einen Seite ist beispielsweise ständig die Rede von Spionen, die überall lauern und Informationen weitergeben. Auf der anderen Seite entpuppt sich der Spion als ein alter Wanderer, den man am Wegesrand über Soldaten ausgefragt hat. Ein anderes Beispiel liefert wieder Soldat Rauch. Der beschwert sich in seinem Tagebuch über die Inkompetenz des Major Johann G. Schütze, der auch Dienst in Holland absolvierte und der nach dem Wasunger Krieg wegen Feigheit entlassen wurde. In den Akten liest man dann, was der wahre Hintergrund seiner Diffamierung war, und zwar eine rein persönliche Auseinandersetzung zwischen Leutnant Rauch und Major Schütze.“
Michael Schwarz hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, im Rahmen seines Forschungsprojektes Wissenszirkulationen wie diese aufzudecken, zu analysieren und zu vergleichen. Bis Ende 2016 möchte er seine Promotion abgeschlossen haben. Und wer weiß? Vielleicht findet er bis dahin auch heraus, dass die Niederländer gar nicht so feige waren und Soldat Rauch, der durchaus für seine Raubeinigkeit gegenüber Gegnern bekannt war, nur wieder eine seiner persönlichen Fehden mit diesem „Wissen“ austragen wollte.