Die Corona-Krise besteht nicht nur aus dem Auftreten eines bislang unbekannten Virus, für den es keinen Impfstoff gibt. Unbekannte Viren mit gravierenden Folgen für die Gesundheit sind bereits in der Vergangenheit aufgetreten, doch haben sie keine vergleichbare globale Krise ausgelöst. Die Corona-Krise zeichnet sich dadurch aus, dass die auf das Auftreten von COVID-19 und die damit verbundenen Todesfällen reagierenden politischen Maßnahmen enorme ökonomische, soziale und rechtliche Konsequenzen hatten. Welcher Art die Folgen der Krise sind, beschreibt im Folgenden Prof. Dr. Hartmut Rosa, der Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt...
Meine zentrale These ist, dass die Krise eine wesentliche Destabilisierung des in der heutigen Zeit dominanten Gesellschaftssystems kennzeichnet. Was ist damit gemeint? Wie ich bereits in früheren Publikationen festgestellt habe, ist unser modernes Gesellschaftssystem dadurch gekennzeichnet, dass es sich nur noch dynamisch stabilisieren kann. Das heißt, dass die Wirtschaft nur stabil ist, wenn sie wächst, dass Wissenschaft immer schneller immer mehr Publikationen und Drittmittel generieren muss, dass Politik immer mehr Personen für immer mehr Anliegen aktivieren muss usw. Doch diese ständige Steigerungslogik ist selbstzerstörerisch, wie das materielle Bewegungsprofil der Erde zeigt: Immer mehr Güter und Dienstleistungen verzehren immer mehr Ressourcen, die Anzahl der Stoffwechselprozesse mit der Natur nehmen kontinuierlich zu und eine exponentielle Wachstumskurve der bewegten Masse an Menschen, Rohstoffen und Gütern führt zu den bekannten Problemen einer nicht nachhaltigen Entwicklung. Doch bislang schien es so, als handle es sich bei dieser Entwicklung um eine Art Naturgesetz, einen Systemzwang, der nicht mehr gestoppt werden kann.
SARS-Cov-2 hat uns aber gezeigt, dass das nicht stimmt. Plötzlich konnten Dynamisierung und Steigerungszwang angehalten werden, was man an vielen materiell-physischen Größen ablesen konnte. Auch wenn in einigen Bereichen (Toilettenpapier, digitale Endgeräte) ein neuerliches Wachstum festzustellen war, kam es insgesamt zu einer Entkopplung zwischen einem sich verlangsamenden physisch-realen Verkehr und einer sich beschleunigenden digitalen Kommunikation. Dabei ist die Verlangsamung nicht unmittelbar auf das Virus zurückzuführen, sondern eine Folge politischer Entscheidungen und politischen Handelns. Das ist bemerkenswert, denn bislang zeigten sich die politischen Akteure als unfähig, in das Räderwerk der Beschleunigung einzugreifen – trotz zahlreicher Mahnungen seit etwa dem Bericht des Club of Rome 1972. Erstmals wurde durch bewusstes Handeln – und nicht durch unintendierte Nebenfolge von ökonomischen oder militärischen Krisen – die materielle Bewegung auf der Erde verlangsamt.
Diese Erkenntnis ist vor allem für Gesellschaftstheoretiker*innen, die uns erklären wollen, wie die Gesellschaft funktioniert, von besonderem Interesse. Denn zwei besonders einflussreiche Ansätze, die bislang sehr gut erklären konnten, warum sich an der Beschleunigungs- und Wachstumslogik nichts ändern kann, werden durch den oben beschriebenen Einschnitt in besonderer Weise herausgefordert: einerseits die (1) systemtheoretischen und andererseits die (2) strukturdeterministischen Ansätze.
(1) Die Systemtheorie geht davon aus, dass unsere Gesellschaft durch eine funktionale Differenzierung geprägt ist, d. h. die Systeme Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Religion usw. funktionieren nach jeweils eigenen Logiken oder Codes (Geld vermehren, Wissen vergrößern, Wählerstimmen sammeln, Gläubige bekehren usw.), die aber jeweils eigensinnig funktionieren und nicht mehr miteinander kompatibel sind. Bei Krisen zeigt sich, dass die Systeme nicht mehr richtig miteinander kommunizieren können. Die Klimakrise kann im Bereich der Politik Thema werden und zu Stimmenverlusten oder -gewinnen führen. Sie hat aber keine Auswirkung auf die Wirtschaft, weil sich politische Appelle nicht automatisch in die Logik der Zahlungsfähigkeit übersetzen lassen. Gemeinsame Problemdefinitionen, gemeinsames Handeln ist nicht mehr möglich. Doch diese bislang unsere Krisensituation gut beschreibende Theorie wird durch die Corona-Krise herausgefordert, denn der Staat wurde zum zentralen Akteur und ordnete alles dem Ziel der Bekämpfung des Virus unter. Entgegen der Überzeugung der Systemtheorie, dass es keinen evolutionären Prozess geben kann, der Instanzen zusammenführen kann, scheint die Corona-Krise genau das zu zeigen. Der Staat kann in Krisenzeiten schlagkräftig und relativ effizient handeln.
(2) Strukturdeterministische Ansätze, wie z.B. der Neomarxismus, aber zum Teil auch poststrukturalistische und gouvernementalitätstheoretische Entwürfe, waren schon immer der Meinung, dass der Staat ein wirkmächtiger Akteur ist. Aber es handelt sich in diesen Theorien um einen Akteur, der im Interesse der Kapitalakkumulation bzw. der herrschenden Klassen handelt, wie z.B. bei der Rettung der Banken in der Finanzkrise 2008/09 mit Verweis auf deren Systemrelevanz. Der Staat ist somit ein Instrument der herrschenden Klassen und nutzt Krisen, um emanzipatorische Interessen der Bürger*innen zu unterdrücken. Staatliches Handeln ist demnach durch Klassenlagen geprägt und somit strukturdeterminiert. Doch in der Corona-Krise hat der Begriff Systemrelevanz eine ganz andere Bedeutung erfahren, denn es ging in dieser Krise nicht um die Sicherung von Banken, Märkten oder der Kapitalakkumulation, sondern um die Alten, Geschwächten und durch das Virus am stärksten Gefährdeten. Die Krise offenbart also eine Kluft zwischen staatlichem Handeln und der Kapitalakkumulation. Die Politik hat sich gegen Finanzmarktlogiken durchgesetzt.
Vor diesem Hintergrund interessieren mich Modelle, die einen politisch handlungsfähigen Staat, der die Interessen der Menschen und des Lebens gegen Kapitalinteressen vertritt, in besonderer Weise. Solche Modelle wurden etwa von Claus Offe oder Jürgen Habermas entwickelt. Dabei sind die von systemtheoretischen und strukturdeterministischen Ansätzen aufgezeigten dominanten Strukturlogiken auf jeden Fall ernst zu nehmen. Ein Ausbrechen aus diesen Logiken ist deshalb aufgrund von Pfadabhängigkeiten nur in besonderen Ausnahmesituationen möglich. Ich möchte dafür argumentieren, dass die Corona-Krise eine solche Ausnahmesituation darstellt, die Chance auf das Einschlagen eines neuen Pfades ermöglicht. Nach der Abbremsung scheint es nur zwei Alternativen zu geben: Zusammenbruch oder so schnell wie möglich die Dynamisierungsimperative und Wachstumszwänge wieder in Kraft setzen. Doch die handelnden Akteure haben eine wichtige Erfahrung gemacht: Sie haben sich als handlungsmächtig erfahren. Sie konnten konzertiertes politisches Handeln gegen Systemzwänge und gegen Finanzmarktinteressen durchsetzen.
Außerdem bergen Krisen immer die Möglichkeit, aus dem „normalen“ Trott der institutionalisierten Routinen auszubrechen. In normalen Zeiten folgen Problemwahrnehmung, Aufgabenstellung und Bearbeitung eingespielten Mustern, was wir als Pfadabhängigkeit bezeichnen. Ein Pfadwechsel wird erst in einer Krise möglich, die einen historischen „Bifurkationspunkt“ darstellt. Hier ist nicht klar, wie es weitergeht. Die üblichen Muster helfen gerade nicht weiter. Viele Akteure sind natürlich versucht, schnell wieder den alten Pfad zu erreichen, aber es besteht auch die Chance, einen neuen Weg einzuschlagen. Meine These lautet, dass wir uns aktuell an einem solchen „Bifurkationspunkt“ befinden, also an einem Punkt, wan dem der Fortgang der Geschichte offen ist, so dass es auf das Handeln ankommt. Hans Joas hat hierfür den Begriff „Kreativität des Handelns“, Hannah Arendt den der „Natalität“ des Menschen geprägt. Gemeint ist jeweils, dass kreativ handelnde Akteure neue Wege einschlagen können, die dann auch die bestehenden Strukturen und Institutionen (u.a. Produktions- und Verteilungsstrukturen, Konsummuster und politische Institutionen) verändern.
Wenn diese These richtig ist, dann befinden wir uns in einer Situation, die von Nichtwissen, Kontingenz und dem Zwang zur Unsicherheit geprägt ist. Doch das sollte die Soziologie, die sich mit gesellschaftlichen Krisen beschäftigt, nicht davon abhalten, einen Beitrag zur notwendigen Debatte zu leisten. Im Anschluss an Max Weber und Charles Taylor verstehe ich Soziologie nicht als eine Wissenschaft, die autoritatives Wissen produziert, sondern als eine Institution der gesellschaftlichen Selbstdeutung. Menschen sind grundsätzlich selbstinterpretierende Wesen und die Sozialwissenschaften deuten die gesellschaftlichen Selbstdeutungen noch einmal. Dabei versuchen sie, eine möglichst treffende Interpretation der gesellschaftlichen Lage zu geben. Die Qualität dieser Interpretation bemisst sich an ihrer Plausibilität angesichts verfügbarer Daten und Befunde. Dabei gilt es gemäß Webers Plädoyers. für eine werturteilsfreie Wissenschaft auch die Argumente und Befunde zu gewichten, die der eigenen Position widersprechen. Sozialwissenschaftliche Deutungen stellen sich dabei im öffentlichen Diskurs der Kritik und werden auf diese Weise zu immer besseren Interpretationen, die dann zu wirkmächtigen Selbstdeutungen werden und in neue Institutionen gerinnen.
Wie kann die Soziologie nun zu einer solchen Interpretation der gegenwärtigen Krise beitragen? Sie muss klären, (1) wohin sie schauen sollte, um die Krise zu verstehen, und (2) wie sie den Akteuren helfen könnte, um einen kreativen Weg aus der Krise zu finden.
(1) Ich verstehe die Krise als einen historisch beispiellosen Prozess der Entschleunigung. Damit meine ich kein romantisches Konzept, sondern die Tatsache, dass Ausgangssperren Menschen an ihre Wohnungen fesseln, Lieferketten ins Stocken geraten, Reisen unmöglich werden. Auch wenn die Gewinnung von Zeitressourcen sozialstrukturell ungleich verteilt sind (Pflegekräfte können das bestätigen), ist trotzdem die Tatsache nicht zu leugnen, dass Entschleunigungsprozesse und -phänomene auf der physisch-materiellen Ebene die Erfahrungen vieler Menschen geprägt haben. Zugleich haben sich die digitalen Prozesse verstärkt. Ich deute diese Erfahrungen als Versuch, das Virus in medizinischer, technischer und politischer Weise verfügbar zu machen, also gemäß dem Wachstums- und Beschleunigungsparadigma die Reichweite über die Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen. Die Aufgabe der Soziologie sollte hier also sein, diese Deutung und andere in einem diskursiven Streit zu prüfen und sich nicht zu stark vereinfachend oder ideologisch auf traditionellen Paradigmen auszuruhen.
(2) Wie kann die Soziologie dazu beitragen, einen kreativen Weg aus der Krise zu finden? Hier muss die Soziologie meines Erachtens die Bedeutung von Kontingenz, also der Tatsache, dass die Zukunft nicht vorherbestimmt ist, sondern wir immer wieder durch Handeln (oft unbewusst) beeinflusst wird, hinweisen. Vor einer fatalistischen Haltung einer wissenschaftlichen Position, die die Unveränderbarkeit des Systems oder der gesellschaftlichen Strukturen betont, möchte ich warnen, denn sie nimmt den Akteuren – scheinbar wissenschaftlich legitimiert – die Chance, zur Veränderung eines nicht zukunftsfähigen Wachstumsparadigmas beizutragen. Eine verantwortungsvolle Soziologie sollte hingegen den in der Corona-Krise deutlich gewordene Riss zwischen einer ökonomisch erzwungenen Steigerungsdynamik und der Lebensrelevanz aufzeigen und die Chance für einen Pfadwechsel beleuchten, der gerade dazu beitragen könnte, die Lebenschancen von bisher Unterprivilegierten wie auch der natürlichen Umwelt zu verbessern.
Dieser Beitrag basiert auf Hartmut Rosas ausführlicheren Beiträgen: „Pfadabhängigkeit, Bifurkationspunkte und die Rolle der Soziologie. Ein soziologischer Deutungsversuch der Corona-Krise“ sowie „Ein soziologischer Deutungsversuch der Corona-Krise angewendet auf die Wirtschaftsethik“ (gemeinsam mit Bettina Hollstein), der in „Lehren aus Corona. Impulse aus der Wirtschafts- und Unternehmensethik“ erschienen ist. Hier finden sich einschlägige Literaturverweise.