Von Vasilios N. Makrides und Eleni Sotiriou
Die Coronavirus-Pandemie hat Staaten, Unternehmen und Milliarden von Menschen weltweit schwer getroffen und betrifft sie immer noch. Sie hat nicht nur Angst ausgelöst, sondern auch eine Vielzahl von Vorhersagen und Reaktionen aus allen möglichen Blickwinkeln hervorgerufen. Sie hat auch zum Verlust der „alltäglichen Normalität“ geführt. Dabei reichen die Auswirkungen der Pandemie über rein medizinische Aspekte hinaus; sie erreichen auch kulturelle Dimensionen und eben solche, die sich auf das Hauptthema der Forschungsgruppe „Was ist ‚westlich‘ am Westen?“ an der Universität Erfurt beziehen. Wird diese Pandemie zu einer radikalen Neubewertung der Werte der Menschheit führen, die – historisch gesehen – meist vom Westen geprägt worden sind? Wird sie eine radikale Reform des Wirtschaftsliberalismus und des exzessiven Individualismus westlicher Provenienz in unserem globalisierten Zeitalter bedeuten?
Zweifellos hat diese epidemiologische Krise viel, wenn nicht sogar alles in der Welt verändert, während ihre Wechselfälle in der Folgezeit sehr gefürchtet sind, da sie sich kaum genau vorhersagen lassen. Für diesen Blog-Beitrag schauen wir zunächst auf Griechenland, ein Land, das verschiedene Besonderheiten aufweist. Tatsächlich wurde die Art und Weise, wie dieses Land mit der Pandemie umgegangen ist, weltweit gefeiert – von den Medien (CNN, Bloomberg, Forbes, The New York Times, The Guardian, The Wall Street Journal, The Time Magazine, Der Spiegel usw.) bis hin zu renommierten Intellektuellen, wie dem Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul Krugman, dem Politologen Francis Fukuyama und den Historikern Yuval Noah Harari und Niall Ferguson. Diese positiven Reaktionen schilderten die Strategie Griechenlands als äußerst wirksam und erfolgreich bei der Kontrolle der Ausbreitung des Virus und als ein Modell für andere westliche Länder oder sogar weltweit, insbesondere wenn man die am härtesten betroffenen Länder wie die USA, das Vereinigte Königreich, Italien, Spanien und Frankreich in Betracht zieht. Selbst Belgien, ein Land mit einer mit Griechenland vergleichbaren Bevölkerungszahl, musste während dieser Pandemie einen höheren Preis zahlen. Auf den ersten Blick mögen die oben genannten pro-griechischen Stimmen seltsam erscheinen. Griechenland war ja nicht das einzige Land, das sich in dieser Krise gut geschlagen hat; Neuseeland und Dänemark – um nur zwei zu nennen – haben das Gleiche getan. Warum also diese besondere Aufmerksamkeit für ein kleines Land wie Griechenland? Dies ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass genau dasselbe Land vor einigen Jahren im Zusammenhang mit der tiefen Wirtschaftskrise, die die Grundfesten der Eurozone erschütterte und sogar eine tödliche Gefahr für sie darstellte, Schlagzeilen gemacht hat. Zu jener Zeit war Griechenland ein Modell, das man unbedingt vermeiden sollte. Der „Rauswurf“ aus der Eurozone und sogar aus der Europäischen Union stand mehr als unmittelbar bevor. Schließlich war der Status Griechenlands immer ein liminaler – d. h. es wurde nie als ein vollwertiges westliches Land betrachtet, sondern eher als etwas dazwischen; eine Mischung verschiedener östlicher und westlicher Traditionen; ein attraktiver Topos der westlichen Vorstellungskraft, voller vergangener Herrlichkeiten; ein Fall sui generis am Rande Südosteuropas. Nicht zu vergessen: Samuel P. Huntington hatte bereits in den 1990er-Jahren in seiner berüchtigten geopolitischen Theorie Griechenland als „eine Anomalie“ im westlichen Systemgefüge bezeichnet und damit auf seinen besonderen Charakter als Staat hingewiesen.
Wie konnte sich nun dieses „Sündenbockland“ plötzlich in eine Erfolgsgeschichte verwandeln, in eines, dem andere Staaten nacheifern wollen? Tatsächlich war angesichts der chronischen Defizite des Gesundheitssystems des Landes und seines langjährigen Rufs als unregierbar allenthalben eine besonders hohe Zahl von Todesopfern und eine weitere unbeherrschbare Krise erwartet worden. Außerdem sind die Griechen berüchtigt für ihre Widerspenstigkeit, die sich politischen Autoritäten und offiziellen Regierungsagenden widersetzen, egoistisches Verhalten an den Tag legen, das öffentliche Wohl missachten, sentimental und irrational handeln. Sie legen eine unbekümmerte „Tanz-die-Probleme-raus“-Haltung an den Tag, die Anthony Quinn 1964 im Film „Zorba der Grieche“ nach Nikos Kazantzakis՚ Roman von 1964 perfekt verkörpert hat. Die rasche Reaktion der gegenwärtigen Regierung auf die Pandemie hatte jedoch den gegenteiligen Effekt. Warum haben die Griechen dann in diesem Fall die Befehle, Ratschläge und strengen Sperrmaßnahmen der Regierung akzeptiert und befolgt? Es gibt verschiedene Erklärungen für dieses Paradoxon: Es wurde zum Beispiel im Zusammenhang mit der „Ermüdung“ der griechischen Gesellschaft nach dem langen Jahrzehnt der wirtschaftlichen Not und des internationalen Spottes erklärt und mit der Notwendigkeit, ein besseres kollektives Gesicht zu zeigen, nicht nur im Inland, sondern auch nach außen. Es kann auch mit einer langjährigen kulturellen Prädisposition der Griechen für die Somatisierung von Problemen und ihrer ständigen Beschäftigung mit Krankheit zusammenhängen. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass Ärzte im Lande hoch angesehen sind und bei der Bevölkerung manchmal mehr Gehör finden als Regierungsbeamte. So verfolgten die Griechen aufmerksam und quasi-religiös die täglichen Unterweisungen des (in Harvard ausgebildeten) Immunologen und Sprechers des Gesundheitsministeriums, Sotirios Tsiodras, wenn er sich an die Nation wandte und praktische Ratschläge gab, wie man sich selbst, seine Familie und die Gesellschaft vor dem Virus schützen kann.
Was auch immer die Gründe für diese bemerkenswerte Veränderung waren, kann aus diesem Fall eine wichtige Schlussfolgerung gezogen werden: Im Umgang mit dieser Krise hat sich Griechenland als „westlicher“ als der Rest erwiesen, was einmal mehr auf die Notwendigkeit einer Neubewertung des konventionellen Diskurses über Fortschritt, Entwicklung, rationale Strategien, soziale Organisation und pragmatische Effektivität in westlichen Ländern und Umfeldern hindeutet. In Wahrheit ist es auch nicht das erste Mal, dass dies geschieht – die westliche Überlegenheit, sei sie real oder fiktiv, ist in den vergangenen Jahrzehnten im Kontext der Postmoderne und des Postkolonialismus oft heftig kritisiert worden. Es liegt auf der Hand, dass der Fall Griechenland während der aktuellen Pandemie eine erneute Einladung an uns ist, tiefer darüber nachzudenken, wie leicht und schnell solche Stereotype über westliche Fortschrittlichkeit und nicht-westliche Unterentwicklung auf- und abgebaut werden können. Eines bleibt jedoch sicher: Derartige Stereotype werden nie verschwinden, aber sie können insofern neu formuliert werden, als dass sie dieselbe Geschichte erzählen, aber vielleicht mit anderen Worten und in anderen Zusammenhängen.
Ein zweites Analysefeld im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie und den möglichen Ost-West-Unterschieden, auf das wir aufmerksam machen möchten, betrifft die Verwendung von Gesichtsmasken. Dies ist als notwendiges und wirksames Mittel im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus mehr oder weniger obligatorisch geworden. Offensichtlich ist das Tragen von solchen Masken nicht nur ein medizinisches Thema, sondern in soziokulturelle Normen und Praktiken eingebunden. Hat der Westen vom Osten gelernt, wie man Gesichtsmasken trägt und sie sogar toleriert? Ist es nicht so, dass die ostasiatische und südostasiatische Bevölkerung und sogar Asiaten, die in westlichen Ländern leben, in allen vier Jahreszeiten Masken trugen, sogar vor dem Ausbruch von Covid-19, zum Beispiel um sich vor Luftverschmutzung oder Infektionskrankheiten zu schützen? China ist wieder ein typisches Beispiel dafür, insbesondere nach der SARS-Epidemie von 2003. Ferner gibt es in Asien eine Gesichtsmaskenkultur, die sogar bis zur spanischen Grippepandemie (1918–1920) zurückreicht. Die Menschen im Westen dagegen trugen selten Gesichtsmasken, es fehlte ihnen eine solche Kultur, während der Anblick asiatischer Touristen mit Masken im Westen oft Verwirrung, Stigmatisierung oder sogar Misstrauen hervorrief. Die jüngste Krise verschlimmerte die ganze Situation noch und setzte die Asiaten oft Verunglimpfungen und Diskriminierungen aus. Sie führte auch dazu, dass die Nachfrage und das schwindende Angebot plötzlich zu einem globalen Wettlauf um solche Masken wurden.
Das Thema ist und bleibt ein hochgradig kulturelles und trägt eine gewichtige Symbolik: Die Verhüllung des Gesichts ist für den westlichen Geist in vielerlei Hinsicht problematisch, nicht nur unter dem Druck von Covid-19, sondern auch allgemein – man denke nur an die Debatten über staatliche Verbote für muslimische Frauen hinsichtlich des Tragens eines Schleiers in westlichen Ländern. In gewisser Weise wurde das Tragen von Masken in Asien zu einer Frage der kollektiven und gemeinschaftlichen Solidarität, und ihr Gebrauch normalisierte sich, es wurde zur alltäglichen Praxis. In Asien hängt dies auch mit kulturellen Merkmalen zusammen, wie zum Beispiel mit einem Gemeinschaftsgefühl oder dem Wunsch, andere in Bezug auf ihre Privatsphäre und ihren persönlichen Raum zu respektieren, aber auch mit dem Selbstschutz. Abgesehen von staatlichen Sanktionen und der Verhängung von Bußgeldern würde das Nichttragen von Masken hier als unverantwortliches Verhalten und mangelnder sozialer Zusammenhalt betrachtet werden. So reagieren die Menschen diesbezüglich eher ungehalten auf „Nonkonformisten“. Es herrscht eher eine Mentalität des zivilen Gehorsams und der Unterwürfigkeit gegenüber Autorität. Das Gemeinwohl hat in Asien offenbar einen höheren Stellenwert und zwar unabhängig von Unterschieden in den politischen Strukturen, wie zum Beispiel zwischen dem autoritäreren China und dem demokratischeren Südkorea, die auf gemeinsamen Traditionen der konfuzianischen Sozialethik und des Bürgerbewusstseins gründen.
Das Maskenproblem und sein kultureller Kontext blieben weitgehend unbemerkt und spielten im Westen bis zum Ausbruch von Covid-19 keine Rolle, als die im Westen lebenden Asiaten als potenzielle Virusträger und Virusverbreiter undifferenziert diskriminiert wurden. Aufgrund der von den jeweiligen Regierungen auferlegten Schutzmaßnahmen wie dem Tragen von Masken mussten die Menschen im Westen ihre Haltung überdenken – auch im Hinblick auf die Bedeckung ihrer Gesichter, die mit ihrem Bedürfnis nach Individualität und Freiheit kollidiert. Viele mochten sich daher dem „Diktat“ der Regierung oder der Gemeinschaft nicht unterwerfen, was eine „Spaltung“ innerhalb der Gesellschaft zur Folge hatte. Dies lässt sich auch an der Art und Weise beobachten, wie viele westliche Menschen sich den Abriegelungen widersetzten, ein Akt, der in Ostasien undenkbar wäre. Für letztere musste die Pandemie, wie bereits erwähnt, kollektiv und gemeinschaftlich und nicht individuell überwunden werden. Die ganze Frage betrifft also die Beziehungen zwischen eher individuell orientierten und eher kollektiv strukturierten Kulturen. Auch wenn die Gesichtsmasken im Zuge der Krise an die westliche Individualität angepasst und oft zu modischen Statements geworden sind, bleibt das Problem ihrer Legitimität weiterhin bestehen.
Nicht zu übersehen ist allerdings, dass die westlichen Regierungen und auch die wissenschaftliche Welt eine große Ambivalenz hinsichtlich des Tragens von solchen Masken zeigten. Manche befürchteten sogar, dass sie übermäßige Angst schüren könnten. Dies wird in zahlreichen wissenschaftlichen und oft widersprüchlichen Debatten über die tatsächliche Wirksamkeit von Gesichtsmasken zur Eindämmung des Virus deutlich. Der vielleicht prominenteste Fall von Inkonsequenz ist derjenige des US-Präsidenten Donald Trump, der sich weigerte, eine solche Maske zu tragen, vor allem vor Kameras, und sie als „freiwillige Maßnahme“ bezeichnete – entgegen dem Drängen seiner Regierung und den medizinischen Behörden gegenüber den Bürgern, ihre Gesichter in der Öffentlichkeit als Mittel gegen eine Infektion zu bedecken, insbesondere an geschlossenen Orten. Im Fall von Trump hängt diese Entscheidung vielleicht mit Fragen von Macht, Führung und Persönlichkeit zusammen, die sich beim Sprechen in seinem Gesichtsausdruck zeigen – etwas, das eine Gesichtsmaske sicherlich verbergen würde. Das Tragen von Masken könnte ja zudem als Zeichen für Verwundbarkeit interpretiert werden, und dies ließe sich mit dem Selbstbewusstsein des „stärksten Staates der Welt“ nur schwer in Einklang bringen. Es hat auch mit einem Gefühl von westlichem Exzeptionalismus, Vormachtstellung und Überlegenheit zu tun, das Trumps Haltung bestimmte, als er Covid-19 immer wieder als „chinesisches Virus“ bezeichnete, das zunächst als Bedrohung für die wahrgenommene Immunität der westlichen Supermacht unvorstellbar war. Dies könnte eine weitere Erklärung dafür sein, warum die drohende Gefahr zu Beginn unterschätzt wurde und die Entscheidung über die Abriegelung mit erheblicher Verzögerung getroffen wurde. Ähnlich verhielt es sich in Großbritannien mit der Politik von Boris Johnson – bis zu dem Zeitpunkt als seine eigene Gesundheit in Gefahr war. Allgemeiner ausgedrückt geht es bei der zögerlichen Verwendung von Gesichtsmasken durch Menschen im Westen in erster Linie um die befürchteten negativen Folgen der Gesichtsbedeckung. Der Gesichtsausdruck (und nicht nur der Blickkontakt, der normalerweise nicht durch eine solche Mund- und Nasenmaske verhindert wird) ist für die soziale Interaktion im Westen als Teil der eigenen persönlichen Identität enorm wichtig.
So gesehen geht es für den Westen hier um persönliche Freiheit, expressive Individualität, liberale Einstellungen und Selbstverwirklichung jenseits der Zwänge einer amorphen Kollektivität und rituellen Uniformität – Themen, die im Westen seit Beginn der Neuzeit immer stark betont worden sind. In einigen Medien wurden Gesichtsmasken sogar „rassifiziert“ und als ein ausgesprochen „asiatisches Phänomen“ interpretiert, das der europäischen oder allgemeineren westlichen Kultur fremd sei. Gegenwärtig gibt es im Westen einen offensichtlichen kulturellen Widerstand gegen das Tragen von Masken, der auf die Widerstandsfähigkeit der Traditionen westlicher Individualität und Liberalität selbst im gegenwärtigen globalen Schmelztiegel hinweist. Dasselbe gilt auch für die Frage der sozialen Distanzierung, die in der ostasiatischen Kultur durch den weniger direkten persönlichen Körperkontakt der Begrüßung (z. B. durch Verbeugung) stärker verankert ist als in der westlichen Kultur (z. B. durch Händeschütteln, Umarmen und/oder Wangenküsse). Das heißt natürlich nicht, dass es keine Diskrepanzen im Habitus der westlichen Kulturen gibt, zum Beispiel zwischen dem europäischen Norden und Süden. Insofern erwies sich die soziale Distanzierung als Maßnahme für einige nordeuropäische Länder (z. B. Schweden) im Vergleich zu südeuropäischen Ländern wie Italien und Spanien als wesentlich einfacher oder sogar „unnötig“. Die Abwehrhaltung gegenüber der digitalen Rückverfolgung der Infizierten durch ein Überwachungsnetz war ähnlich gelagert, eine Maßnahme, die in Ostasien meist ohne nennenswerte Reaktionen akzeptiert wurde, während sie im Westen als eine ernsthafte Bedrohung für das Recht auf Privatsphäre angesehen wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach können all diese Unterschiede auch teilweise erklären, warum die ostasiatischen Länder die Pandemie in fast allen Bereichen wirksamer eingedämmt haben als der Westen, auch wenn man bedenkt, dass die Pandemie ihre größten Verwüstungen unter den reichsten Nationen des Westens angerichtet hat, die eigentlich die Macht und die Mittel von Anfang an hatten, sie effektiver zu bekämpfen.
Wo steht also der Westen im Vergleich zum Rest der Welt im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Krise heute? Auch hier sind die Unterschiede innerhalb der westlichen Welt auffällig: So gehörten ex-kommunistische Länder wie die Slowakei und die Tschechische Republik, beides heutige EU-Mitgliedsstaaten, zu den ersten Ländern, die obligatorische Gesichtsmasken einführten, vielleicht auch aufgrund der früher starken Betonung des kollektiven Verhaltens in ihrem kommunistischen Erbe. Die gegenwärtige Krise hat auch die ernsten Widersprüche innerhalb des Westens selbst, seinen Mangel an Einheit und Solidarität und seine Abhängigkeit vom Rest der Welt offenbart. Zeitweise erschien daher die westliche Welt als „zerbrochenes Glas“. Die frühen Dissonanzen und Konflikte im Zusammenhang mit der lang ersehnten Entdeckung eines Impfstoffs und seiner möglichen Verbreitung zeugen davon. Tatsächlich war es China, das dem Westen in vielerlei Hinsicht Hilfe anbot (z. B. durch die Bereitstellung von Gesichtsmasken sowie medizinischer und anderer Ausrüstung). Die alte „Seidenstraße“ wurde also während der Pandemie durch eine „Maskenstraße“ ersetzt. Darüber hinaus haben die rasche Ausbreitung des Virus vor allem im Westen und die zahlreichen negativen Auswirkungen der Pandemie gezeigt, dass die angebliche Überlegenheit des Westens gegenüber dem Rest der Welt in vielerlei Hinsicht ein Mythos ist. Früher verließ sich der Westen auf seine Wissenschaft und auf die Medizin, die mit fast übermenschlichen, ihrer eigenen Selbstdefinition innewohnenden Qualitäten ausgestattet waren und sich mit ihrer vermeintlichen Unverwundbarkeit abfanden. Tatsächlich war der Ausbruch der Corona-Pandemie im Westen völlig unvorstellbar; man glaubte, dass diese eher vergangenen Epochen angehört. Dies erklärt auch, warum die westlichen Staaten die Krise, die „aus heiterem Himmel“ kam, von Anfang an unterschätzt hatten und auf sie völlig unvorbereitet zu sein schienen. „Das kann nur anderen passieren, nicht uns Westlern“ – dieser war der vorherrschende Gedanke hinter dem anfänglichen Versäumnis, ernsthaft Maßnahmen zu ergreifen. Diese Art angeblicher westlicher Immunität ging Hand in Hand mit derjenigen des westlichen Exzeptionalismus und des evolutionären Denkens einer überlegenen Zivilisation, die sich klar von der „östlichen Bestialität“ abgrenzte. Mit anderen Worten: Die Notwendigkeit, die Grenzen zwischen Mensch und Tier zu kontrollieren, ist im Westen stärker als im Osten. Dies zeigt sich zum Beispiel im Stolz der ersteren auf den Triumph ihrer Kultur über die Natur, der sich in der übermäßigen Nachfrage nach Toilettenpapier offenbarte, die während der Pandemie in westlichen Kulturen (und nicht in den ostasiatischen, vielleicht mit Ausnahme von Hongkong) einzigartig war; und in den ostasiatischen Küchengewohnheiten in Bezug auf essbare oder nicht essbare Tiere, die vom Westen schimpfend als die „tierische Erbsünde“ des Ostens dargestellt wurden. Es geht also um die Grenze zwischen Natur und Kultur, die sich während der gegenwärtigen Pandemie bei vielen Gelegenheiten in unterschiedlichen Ausprägungen manifestiert hat.
Vor diesem Hintergrund hat die aktuelle Pandemie deutlich gemacht, wie wichtig es ist, unter die Oberfläche des angeblich einheitlichen und homogenen Westens zu schauen. Denn sie hat eigenwillige Entwicklungen aufgezeigt, bei denen sich östliche und westliche Stereotype in den Einstellungen vermischt haben oder innerhalb verschiedener und sogar innerhalb desselben westlichen Kontextes klar voneinander abgegrenzt wurden. All dies macht eine dringende Überprüfung nicht nur des Rätsels „Was ist ‚westlich‘ am Westen“, sondern auch „Was ist ‚östlich‘ am Osten“ erforderlich.