Am vergangenen Dienstag verwüstete eine Explosion den Hafen Beiruts. Mehr als 150 Menschen starben, mehrere tausend weitere wurden verletzt. Das Unglück legte nicht nur ein wirtschaftliches Drehkreuz des Libanons in Schutt und Asche, auch beflügeln die Ereignisse politische Unruhen im Land. Demonstranten werfen der Regierung Korruption und Nachlässigkeit vor, die überhaupt erst zur Explosion eines Ammonium-Nitrat-Lagers im Hafen geführt habe. Am Wochenende kam es nun zu gewaltsamen Protesten, bei denen ein Polizeibeamter starb und 200 Demonstranten verletzt wurden. Prof. Dr. Birgit Schäbler, Professorin für die Geschichte Westasiens an der Universität Erfurt, erlebt all dies als Leiterin des Orient-Institutes Beirut derzeit vor Ort. „WortMelder“ hat mit ihr über die politisch wie humanitär angespannte Lage im Libanon gesprochen.
Die Zerstörung am 4. August ereignete sich im Ostteil der Stadt, im alten Christenviertel Achrafieh. Hier, wo der Anteil ausländischer Einwohnerinnen und Einwohner besonders hoch ist, finden sich die meisten Opfer: „In diesen Vierteln wohnt das Gros der Ausländer“, berichtet Birgit Schäbler. „So gut wie alle Botschaftsangehörigen, EU-Leute, die politischen Stiftungen – es sind viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der deutschen Botschaft verletzt worden. Einige mussten ausgeflogen werden, eine Mitarbeiterin wurde getötet. Die Frau des holländischen Botschafters ebenso. Sie stand mit ihrem Mann am Fenster und wurde von der Wucht der Druckwelle erfasst.“
Dass nicht noch mehr Menschen durch die Explosion ihr Leben verloren, sei ironischerweise der Corona-Pandemie zu verdanken, wie die Erfurter Professorin erläutert: „Wir waren im Lock Down, sonst wäre die Ausgehmeile viel mehr frequentiert gewesen. Das riesige Verwaltungs-Gebäude der Electricité du Liban wurde beschädigt, hunderte Mitarbeiter hätten getötet werden können. So ist die Zahl der Todesopfer mit bisher 158 vergleichsweise gering. 120 Menschen sind aber in einem kritischen Zustand. Es werden außerdem noch an die 30 Personen vermisst – die ‚anonyme‘ ausländische Arbeitskräfte aus Bangladesch z.B. sind hier nicht mitgezählt.“ Baulich wurde indes das Viertel so stark in Mitleidenschaft gezogen, wie selbst in den 15 Jahren des libanesischen Bürgerkrieges zwischen 1975 und 1990 nicht.
Wie reagieren die Menschen vor Ort nun auf die verheerende Verwüstung? „Es gibt eine Welle der Solidarität“, berichtet die Leiterin des Orient-Institutes. „Junge Leute kommen mit Kehrschaufeln und Eimern von überall her angereist, um die Straßen zu säubern, private Räumungsunternehmen helfen ohne staatlichen Auftrag, und ein paar staatliche Statiker finden sich auch.“ Die Präsenz des Staates jedoch sei minimal: „Die Menschen werden allein gelassen, einmal mehr.“
Eben diese Untätigkeit der Regierung provoziert aktiven Protest. Am Wochenende zogen tausende Menschen auf die Straße, um gegen die libanesische Führung zu protestieren. „Die Wut bricht sich nun Bahn“, beobachtet Birgit Schäbler. Bereits seit Oktober vergangenen Jahres hatte es eine Reihe von Protesten im Libanon gegeben, die die Korruption führender Eliten im Land anprangerten. Dies hatte zur Einsetzung des aktuell amtierenden Ministerpräsidenten Hassan Diab im Januar 2020 geführt. „Die Volksbewegung vom 17. Oktober 2019, die mit COVID-19 in den Lock Down ging, organisiert sich nun wieder. Jedoch ist die Frustration der Menschen derart hoch, dass die Wut Oberhand gewinnt. Die Interimsregierung unter Hassan Diab, die durch die Volksbewegung am 21. Januar an die Macht kam, bei dieser jedoch nicht beliebt ist, hat die massiven Versäumnisse in Bezug auf das unsachgemäß gelagerte Ammonium-Nitrat zwar nur geerbt, es aber versäumt, angemessen zu reagieren.“
„Das Volk vertraut der eigenen Elite überhaupt nicht mehr, die Bilder erinnern in Teilen an die letzten Tage der DDR, allerdings mit mehr Gewalt – Ministerien werden gestürmt, Dokumente verbrannt.“
– Prof. Dr. Birgit Schäbler –
Stattdessen habe man dem französischen Präsidenten Macron allein die Bühne überlassen, „den geschundenen Menschen mit Mitgefühl zu begegnen. Dieser hat freilich im Herzviertel der Frankophonie auch keine Gegnerschaft zu befürchten“, urteilt die Historikerin. Emmanuel Macron war als erster ausländischer Staatsmann in den Libanon gereist, um sich vor Ort ein Bild von der Zerstörung zu machen. Frankreich und den Libanon verbindet seit Langem eine besondere Beziehung: Vor 100 Jahren hatte der Völkerbund Frankreich das Mandat über den "Großen Libanon" übertragen. Innerhalb der unter dem Völkermandat ausgeformten Landesgrenzen gründete sich 1943 die Libanesische Republik.
Seit dem Wochenende wird die aktuelle libanesische Regierung nun von Rücktritten erschüttert. Ministerpräsident Hassan Diab selbst hat als Antwort auf die massiven Proteste vorgezogene Neuwahlen ins Spiel gebracht, „ursprünglich eine Forderung der Volksbewegung, die diese aber nun nicht mehr aufrechterhält“, erklärt Birgit Schäbler. „Das Volk vertraut der eigenen Elite überhaupt nicht mehr, die Bilder erinnern in Teilen an die letzten Tage der DDR, allerdings mit mehr Gewalt – Ministerien werden gestürmt, Dokumente verbrannt. Dass Präsident Aoun eine unabhängige Untersuchungskommission mit ausländischer Beteiligung ablehnt, lässt tief blicken.“
Bevor es zu umfassenden und nachhaltigen Veränderungen im Land kommen kann, müssen sich die Einwohnerinnen und Einwohner Beiruts zunächst mit sehr viel alltäglicheren, aber nicht ungefährlichen Problemen auseinandersetzen: „Es gibt zum Teil keine Fenster oder Türen in den Wohnungen oder im Institut“, beschreibt die Professorin die aktuelle Situation vor Ort. „Dies wirft sicherheitsrelevante Fragen auf, denn nach der Explosion liegen noch immer giftige Säuren in der Luft. Vermieter sind von der Krise auch betroffen, Versicherungen warten auf das Verdikt, ob es sich um staatliches Versagen oder eine ‚Katastrophe‘ handelte. Glas und Rahmen sind knapp im Land.“
In all diesen Verwerfungen sieht die Wissenschaftlerin letztlich aber auch die Chance auf einen Neuanfang im Libanon: „Es sind sehr schwierige Zeiten, ohne Frage. Aber ich erwarte trotz allem nicht, dass das Land im völligen Chaos versinkt." Denn all dem wohne auch die Chance eines Neuanfangs inne. Die Proteste in der Bevölkerung erzeugen aktuell massiven Druck - ohne ihn würde sich, da ist sich Birgit Schäbler sicher, an den verkrusteten Verhältnissen nichts ändern. „Als Historikerin hat man ja eher längere Zeiträume im Blick. Dass es nach 30 Jahren nun zu einem erzwungenen Generationswechsel kommt, ist nur folgerichtig.“