Arbeitswelten der Zukunft #8: Dr. Bettina Hollstein – Das Ehrenamt in den Arbeitswelten der Zukunft

Gastbeiträge

Das neue Wissenschaftsjahr des Bundesministeriums für Bildung und Forschung widmet sich 2018 dem Thema „Arbeitswelten der Zukunft“. Es soll „erkunden, welche Chancen sich eröffnen und vor welchen Herausforderungen wir stehen“. Forschung, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur suchen gemeinsam nach Antworten auf Fragen zu den Arbeitsplätzen von übermorgen. Auch die Universität Erfurt beteiligt sich mit einer Beitragsreihe wieder am Themenjahr des BMBF und geht dabei aus geisteswissenschaftlicher Sicht der Frage auf den Grund, wie sich zukünftige Arbeitswelten gestalten werden. Welche Ängste bringen Digitalisierung und Robotik mit sich? Wie haben sich Berufe gewandelt, beispielsweise der Lehrerberuf, die Arbeit in Bibliotheken und Archiven oder die Tätigkeit des Forschers selbst? Was ist Arbeit überhaupt, etwa lediglich die Erwerbstätigkeit oder nicht doch alles, was uns im Leben prägt, von familiären und freundschaftlichen Beziehungen bis hin zur Muße? Welche Rolle spielen zukünftig Internationalisierung, Ehrenamt, ständige Leistungssteigerung und Work-Life-Balance? Und wie müssen sich Unternehmen verändern, um zukunftsfähig zu bleiben? Diese und weitere Fragen sollen in der Textreihe „Arbeitswelten der Zukunft – Beiträge der Universität Erfurt zum Wissenschaftsjahr 2018“ diskutiert werden. In Teil acht unserer Beitragsreihe nimmt Dr. Bettina Hollstein, wissenschaftliche Kollegreferentin am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, das Ehrenamt in den Blick. Denn ehrenamtliche Tätigkeiten finden wir in vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Oft genug als notwendige Ergänzung staatlich organisierter Dienstleistungen. Wird oder muss sich daher auch das Ehrenamt mit einem Wandel unserer Arbeitswelt verändern? Was passiert, wenn uns die Arbeit ausgeht oder sie, im Gegenteil, immer mehr zunimmt? Bettina Hollstein legt dar, warum sich Menschen engagieren und wie sich bürgerliches Engagement in die Arbeitswelten der Zukunft integrieren lässt.

Vor einigen Jahren wurde das Ende der Arbeitswelt ausgerufen und man befürchtete, dass in modernen Gesellschaften den Menschen die Arbeit ausgehen werde. Demgegenüber wurde Bürgerarbeit – also ehrenamtliches Engagement – als ein Lösungsmodell empfohlen, für arbeitslose Gesellschaften. Heute wissen wir, dass die damalige Prognose, dass die Arbeit ausgehen würde, falsch war, vielmehr verzeichnen wir einen Zuwachs an bezahlter Beschäftigung. Hat sich damit das Ehrenamt erledigt? In meinem Beitrag will ich zunächst erklären, was Ehrenamt ist, warum sich Menschen engagieren und schließlich, warum wir auch in zukünftigen Arbeitswelten ehrenamtliches Engagement unterstützen sollten.

Was ist Ehrenamt?

PD Dr. Bettina Hollstein
PD Dr. Bettina Hollstein

Ich verwende die Begriffe Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, bürgerschaftliches Engagement usw. synonym. Ehrenamt definiere ich als Tätigkeiten, die freiwillig sind und nicht auf materiellen Gewinn gerichtet, die gemeinwohlorientiert sind, öffentlich bzw. im öffentlichen Raum stattfinden und in der Regel gemeinschaftlich oder kooperativ ausgeübt werden. Die genannten Elemente sollen hier kurz genauer charakterisiert werden:

Die Tatsache, dass es sich um Tätigkeiten handelt, ist wichtig, um tätiges Engagement von einer einfachen Mitgliedschaft oder von Spenden abzugrenzen. Die bloße (fördernde) Zugehörigkeit zu einer Organisation, z.B. als Mitglied im Sportverein, ist noch kein Ehrenamt, sondern nur Tätigkeiten, die mit einem Zeitaufwand verbunden sind. Ehrenamtliche sind also Menschen, die ihr Engagement handelnd realisieren.
Die Charakterisierung als freiwillig und nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtet verdeutlicht, dass diese Tätigkeiten nicht über den Markt gehandelt werden, da sie nicht bezahlt werden. Entschädigungen für angefallene Kosten, die im Rahmen der ehrenamtlichen Tätigkeit entstanden sind, sind aber mit ehrenamtlichem Engagement vereinbar.
Die Gemeinwohlorientierung bedeutet, dass es sich um gesellschaftlich erwünschte Tätigkeiten in sozialen Austauschprozessen handelt – in Abgrenzung von Hobby und Spiel. Ehrenamt soll im Ergebnis auch einen Fremdnutzen – also Gemeinwohl – produzieren, ohne dass dies das primäre Ziel des Ehrenamtlichen sein muss. Ehrenamt kann aber nicht soziale Arbeit ersetzen.
Das Charakteristikum öffentlich verdeutlicht, dass es sich nicht um Haus- und Familienarbeit handelt, sondern um Tätigkeiten, die im öffentlichen Raum stattfinden. Auch wenn die Grenzen fließend sind, soll Ehrenamt von Verpflichtungen gegenüber Familienmitgliedern oder Nachbarn, z.B. im Rahmen der Familienarbeit oder Nachbarschaftshilfe, abgegrenzt werden.
Die Kennzeichnung als gemeinschaftlich oder kooperativ verweist auf die Einbettung in Institutionen oder Organisationen – in Deutschland überwiegend Vereine –, innerhalb deren Ehrenamtlichkeit ausgeübt wird, die weder Unternehmen noch staatliche Behörden sind. Für das Ehrenamt sind zumindest lose Organisationsformen des sogenannten „Dritten Sektors“ notwendig.

Warum engagieren sich Menschen?

Die abgefragten Motive für ehrenamtliches Engagement werden im Freiwilligensurvey 2009 drei verschiedenen Grundmustern zugeordnet: Gemeinwohlorientierung, Interessenorientierung und Geselligkeitsorientierung. Die Gemeinwohlorientierung zeigt sich in Aussagen wie „dass man etwas für das Gemeinwohl tun kann“, das von den Befragten als das zweitwichtigste aller Motive genannt wurde, oder in der Aussage „dass man anderen Menschen damit helfen kann“. Das Gemeinwohl wird immer auf bestimmte geteilte Werte bezogen.

Die Interessenorientierung findet sich in den Formulierungen „dass die Tätigkeit auch für die beruflichen Möglichkeiten etwas nützt“, „dass man eigene Probleme in die Hand nehmen und lösen kann“, „dass man damit (berechtigte) eigene Interessen vertreten kann“ und „dass man die eigenen Kenntnisse und Erfahrungen erweitern kann“ wieder. Insgesamt sind die interessenorientierten Motive zwar vorhanden, werden aber deutlich weniger wichtig eingestuft als die Gemeinwohl- und die Geselligkeitsorientierung.

Als drittes Grundmuster wird die Geselligkeitsorientierung genannt. Die Aussagen „dass man mit sympathischen Menschen zusammenkommt“ und „dass man für seine Tätigkeit Anerkennung findet“ verweisen auf Gemeinschaften, denen man sich verbunden fühlt und in denen man Freundschaft und Anerkennung erfährt. Von besonderem Interesse sind die beiden Erwartungen, die einen spezifischen Handlungsbezug haben, nämlich „dass man die eigenen Kenntnisse und Erfahrungen einbringen kann“ und „dass die Tätigkeit Spaß macht“ – das Motiv, das in allen Befragungen als am wichtigsten genannt wird. Beide Formulierungen beziehen sich auf Tätigkeiten, die Erfahrungen, Kenntnisse und Freude vermitteln und somit den Wert des Tätigseins an sich in den Blick nehmen.

Für ehrenamtliches Engagement sind Werte von Bedeutung, die das Handeln der Engagierten bestimmen. Charles Taylor hat die westliche, neuzeitliche Geistesgeschichte und die Herausbildung von drei spezifischen Moralquellen beschrieben, die moderne Werte bestimmen. Die historisch zuerst entstandene Moralquelle ist die theistische (also auf Religion bezogene), die in der jüdisch-christlichen Tradition wurzelt. Die religiösen Moralquellen haben an Selbstverständlichkeit eingebüßt. Dennoch sind sie auch heute noch vorhanden und gerade im Bereich des sozialen Ehrenamts eine wichtige Motivationsquelle für Menschen, die in ihrem Engagement ihre religiös-moralischen Vorstellungen von Nächstenliebe, Solidarität und Hilfe für andere verwirklichen. Als eine alternative Quelle der Moral hat sich in der Neuzeit eine rationalistische, utilitaristische Vorstellung entwickelt. Durch die Nutzung der Vernunft zur Realisierung des eigenen Glücks soll zugleich das Wohl der Allgemeinheit erreicht werden. Mit dem Siegeszug dieser Moralquelle ist u.a. die Zunahme von Zivilisierung und Disziplinierung verbunden, getragen von einem großen Vertrauen in die Fähigkeit, Menschen und die Gesellschaft umzugestalten und Ordnung in das individuelle Leben und die Gesellschaft zu bringen. Eine weitere alternative Moralquelle ist laut Taylor die expressivistische Verbindung der schöpferischen Phantasie mit dem Gefühl für die Natur im Inneren. Der neuzeitliche Mensch ist somit nicht nur durch Rationalität definiert, sondern durch die Fähigkeit des expressiven Selbstausdrucks. Ehrenamtliches Engagement kann in dieser Perspektive Protest gegen Bürokratisierung, Industrialisierung und Vermarktung weiter Lebensbereiche ausdrücken. Das bürgerschaftliche Engagement kann als eine schöpferische Ausdrucksform des Selbst verstanden werden, das der Selbstverwirklichung dient und wofür Menschen Anerkennung finden.
Allerdings ist ehrenamtliches Engagement keine abstrakte Wertorientierung, die sich wie ein Gedankenexperiment allein im Kopf der Akteure abspielt, sondern wird real in konkreten, verkörperten Handlungen. Körpergebundene Emotionen (wie Trauer, Empörung oder Ekel) vermitteln dabei Handlungsmotivationen. Die sozialen Beziehungsgeflechte und die konkrete Lebenswelt sind dabei nicht nur Rahmenbedingungen, an die sich die Akteure anpassen, sondern Medien der Welterfahrung und veränderung. Ehrenamtliches Engagement ist, wie alles Handeln, immer sozial eingebettet und stellt eine soziale Praxis dar, die in sozialen Organisationen institutionell gestützt und zugleich reflektiert werden muss. Die soziale Einbettung des ehrenamtlichen Engagements erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen. Einerseits auf der kognitiven Ebene: Hier ist auf die Ziele und Zwecke des Engagements zu verweisen, die einen Bezug zum Gemeinwohl aufweisen müssen. Andererseits auf der sozialen Ebene: Im Handeln erfährt der Engagierte Anerkennung und/oder Kritik, erfährt sich selbst, bildet sein Selbst und seine Werte und Vorstellungen vom Guten in Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, die er im Rahmen des Engagements macht.

Warum sollte Ehrenamt auch in zukünftigen Arbeitswelten gefördert werden?

Bei aller in pluralen Gesellschaften notwendigen Vielfalt an speziellen Zwecken von Organisationen zielen ehrenamtliche Aktivitäten in ihrer Pluralität dennoch alle auf Gemeinwohl und Gerechtigkeit. Ehrenamt dient als Raum, in dem in den Aktivitäten gemeinsame emotionale Erfahrungen in besonderer Weise möglich sind und mit Bezug auf gemeinwohlorientierte Werte gedeutet werden. Insofern müssen Organisationen des „Dritten Sektors“ darauf achten, die Dimension der Emotionen zu würdigen und nicht nur als effiziente, bürokratische und sachliche Dienstleistungseinheiten zu funktionieren. Damit stellt der „Dritte Sektor“ einen eigenen Bereich dar, in dem sich Menschen als wertvoll und unabhängig von ihrer Entlohnung als Personen anerkannt erfahren.
Durch die Förderung des Engagements kann keine Lösung für defizitäre Sozialsysteme, Pflegenotstand oder Arbeitslosigkeit geschaffen werden, sondern damit werden Räume eröffnet, die es dem Einzelnen und unserer Gesellschaft als Ganze ermöglichen, sich handelnd – und damit glaubwürdig – der eigenen Vorstellungen eines guten Lebens für den Einzelnen und die Gemeinschaft zu vergewissern und öffentlich auszudrücken. Im Ehrenamt würdigen wir somit unsere Vorstellungen einer guten Gesellschaft.

Der Text basiert auf Artikeln, die in der Schriftenreihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der bpb sowie im Blog „Postwachstumsgesellschaften“ erschienen sind.