Das neue Wissenschaftsjahr des Bundesministeriums für Bildung und Forschung widmet sich 2018 dem Thema „Arbeitswelten der Zukunft“. Es soll „erkunden, welche Chancen sich eröffnen und vor welchen Herausforderungen wir stehen“. Forschung, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur suchen gemeinsam nach Antworten auf Fragen zu den Arbeitsplätzen von übermorgen. Auch die Universität Erfurt beteiligt sich mit einer Beitragsreihe wieder am Themenjahr des BMBF und geht dabei aus geisteswissenschaftlicher Sicht der Frage auf den Grund, wie sich zukünftige Arbeitswelten gestalten werden. Welche Ängste bringen Digitalisierung und Robotik mit sich? Wie haben sich Berufe gewandelt, beispielsweise der Lehrerberuf, die Arbeit in Bibliotheken und Archiven oder die Tätigkeit des Forschers selbst? Was ist Arbeit überhaupt, etwa lediglich die Erwerbstätigkeit oder nicht doch alles, was uns im Leben prägt, von familiären und freundschaftlichen Beziehungen bis hin zur Muße? Welche Rolle spielen zukünftig Internationalisierung, Ehrenamt, ständige Leistungssteigerung und Work-Life-Balance? Und wie müssen sich Unternehmen verändern, um zukunftsfähig zu bleiben? Diese und weitere Fragen sollen in der Textreihe „Arbeitswelten der Zukunft – Beiträge der Universität Erfurt zum Wissenschaftsjahr 2018“ diskutiert werden.
Prof. Dr. Guido Mehlkop ist Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt und forscht zu Brain-Doping und sogenannten Smart-Pills. In Studien beobachtete er den Anstieg der Einnahme von leistungssteigernden Mitteln am Arbeitsplatz. In Teil fünf unserer Beitragsreihe schildert er, wovon die Bereitschaft zur Einnahme von „Doping“ in der Arbeitswelt abhängt:
Unser moderner Lebens- und Arbeitsstil scheint zunehmend mit dem Drang nach Selbstoptimierung verbunden zu sein. Dies betrifft nicht nur Studium oder Beruf, sondern zieht sich durch alle Lebensbereiche. So erwerben zum Beispiel viele Menschen Zusatzqualifikationen in der Freizeit, um in Studium und Arbeitsleben bessere Leistungen zu erreichen. Die Literaturgattung der Ratgeber, etwa in Beziehungsfragen, scheint Konjunktur zu haben und auch die Fitnessbranche floriert, da viele Menschen jeden Alters ihren Körper in Fitnessstudios trainieren und dabei Fitnesstracker, Smartwatches, Youtube-Tutorials und Ernährungspläne nutzen. Manche Zeitgenossen gehen noch einen Schritt weiter und helfen mittels plastischer Chirurgie nach, um ihr Schönheitsideal zu erreichen.
Ein weiteres Mittel zur Selbstoptimierung ist die Einnahme von Medikamenten, etwa Steroide oder Anabolika selbst im Bereich des Freizeit- und Amateursports. Im Studium und in der Arbeitswelt ist seit einigen Jahrzehnten zunehmend die Einnahme von Medikamenten zu beobachten, die die kognitive Leistungsfähigkeit über das individuell normale Maß hinaus steigern sollen, ohne dass dafür eine medizinische Notwendigkeit vorliegt. Die meisten dieser Medikamente wurden ursprünglich zur Therapie von Krankheiten, wie Aufmerksamkeitsdefizits- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Demenz, Narkolepsie und Alzheimer entwickelt. Im Falle des sogenannten „Hirn-Dopings“ auch als Pharmaceutical Cognitive Enhancement (PCE) bezeichnet, werden diese Medikamente genommen, um z.B. eine bessere Konzentrationsfähigkeit zu erreichen, länger ohne Müdigkeit arbeiten zu können oder Nervosität während Prüfungen oder wichtiger beruflicher Termine zu reduzieren. Besondere Prominenz haben die Arzneistoffe Methylphenidat und Modafinil erlangt. Letzteres wird bei der Behandlung von Narkolepsie verwendet und ersteres ist unter dem Namen Ritalin ein Mittel zu Behandlung von ADHS. Beide Mittel sind in Deutschland rezeptpflichtig, gelten aber auch als wirkungsvolles PCE für gesunde Menschen.
Wie viele Menschen wie oft solche rezeptpflichtigen Mittel zu Zwecken der Leistungssteigerung einnehmen, ist nicht genau bekannt. Der Missbrauch rezeptpflichtiger Medikamente ist strafbar und deswegen versuchen Nutzer ihren Konsum zu verschleiern. Eine repräsentative Studie von Sattler und Schunk aus dem Jahr 2016 zeigt, dass drei Prozent der Erwerbstätigen und rund fünf Prozent der Studierenden in Deutschland bereits mindestens einmal in ihrem Leben ein solches PCE eingenommen haben. Rund elf Prozent der Befragten haben zudem angegeben, dass sie prinzipiell PCE konsumieren würden. Dies legt nahe, dass es relativ viele Menschen gibt, die PCE nur deswegen (noch) nicht konsumiert haben, weil sie bislang keine Gelegenheit dazu hatten. Weitere Studien lassen vermuten, dass die Einnahmebereitschaft in Zukunft zunehmen wird.
Die Einnahme von PCE im Sinne einer Selbstmedikation ist eine Strategie, um bestimmte Ziele zu erreichen. Wir gehen davon aus, dass einem solch strategischen Handeln ein rationaler Entscheidungsprozess zugrunde liegt. PCE verspricht dabei einen Nutzen in Form der Leistungssteigerung. Da diese Medikamente jedoch für die Therapie von Krankheiten entwickelt worden sind, ist gar nicht sicher, dass sie bei gesunden Menschen überhaupt wirken. Zudem geschieht die Einnahme oft nicht unter der Anleitung von Medizinern. So kann es zu falschen Dosierungen kommen. Mit PCE sind auch Kosten verbunden. Solche Medikamente müssen beschafft werden und da es sich oft nicht um frei erhältliche Mittel handelt, sind die Beschaffungswege entweder der Erwerb auf einem Schwarzmarkt (teilweise im Internet), Diebstahl oder Simulation von Symptomen einer Krankheit, um Ärzte zu täuschen. Neben den Beschaffungskosten muss auch in Betracht gezogen werden, dass die Einnahme illegal ist und somit bei Entdeckung Strafen folgen können. Wie bei anderen Medikamenten auch, können Nebenwirkungen auftreten. Je nach Wirkstoff reichen diese Nebenwirkungen von Schwindel, Müdigkeit oder Übelkeit bis hin zu Persönlichkeitsstörungen oder dauerhafter Schädigung innerer Organe. Zudem variiert die Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Nebenwirkungen zwischen den Mitteln und den Nutzern stark, so dass für Laien oft gar nicht klar ist, welche Nebenwirkungen mit welcher Stärke auftreten. Menschen, die mit dem Gedanken spielen, PCE einzunehmen werden den möglichen Nutzen gegen die möglichen Kosten abwägen und PCE in Betracht ziehen, wenn aus ihrer Sicht der Nutzen die Kosten überwiegt. Einnehmen werden sie PCE schließlich dann, wenn sie der Ansicht sind, dass die Alternative PCE einen höheren Nutzen als alle anderen Alternativen bringt. Es steht zu vermuten, dass die Konsumenten gerade diese Faktoren mangels medizinischen Wissens oft falsch einschätzen.
Bei der Entscheidung für oder gegen die Einnahme von PCE spielen auch soziale Einflüsse eine Rolle. In einigen Berufsfeldern ist der Leistungsdruck höher als in anderen. Dadurch wird auch der Anreiz zur Einnahme von PCE beeinflusst. Wenn eine Person andere kennt, die PCE ohne Rezept einnehmen (sog. differentielle Assoziation), dann wird die Person durch diese Kontakte lernen, wie man diese Medikamente dosiert und dass der Missbrauch dieser PCE von anderen toleriert wird. So kann es zu einem „Ansteckungseffekt“ kommen. Auf der anderen Seite kann eine strikte Ablehnung von PCE im sozialen Umfeld dazu führen, dass eine Person von der Einnahme absieht, auch wenn sie sich anderweitig einen Nutzen davon verspricht.
Schließlich hat der Missbrauch verschreibungspflichtiger Medikamente auch eine moralische bzw. normative Dimension. Die Einnahme von leistungssteigernden Mitteln berührt Grundsätze der Fairness, insbesondere, wenn einige Menschen Zugang zu diesen Mitteln haben, andere aber nicht. Wenn sich Menschen mithilfe von PCE Vorteile im Wettbewerb um gute Noten und Jobs bzw. Beförderungen verschaffen, dann werden dadurch andere, die vielleicht eigentlich gar keine Medikamente einnehmen wollen, ebenfalls gezwungen, PCE zu nutzen. Im Leistungssport ist dies gut belegt. Schließlich wird durch die Nutzung von PCE auch die Norm der Authentizität infrage gestellt, wonach Leistungen und Erkenntnisse ohne (unerlaubte) Hilfsmittel erbracht werden sollen. Allerdings gibt es nicht nur Argumente gegen die Nutzung von PCE, sondern es werden auch Argumente vorgebracht, die die Einnahme von PCE als moralisch neutral ansehen. Der schwedische Philosoph Nick Bostrom zum Beispiel betont die positiven Effekte von PCE für Individuum und Gesellschaft – falls Wissenschaftler ihre kognitive Leistungsfähigkeit mit Medikamenten gefahrlos steigern können, so Bostrom, dann wäre dies eine Förderung der Wissenschaft, die nicht ungenutzt bleiben sollte, weil wissenschaftlicher Fortschritt letztlich allen zugute kommt.
Zurzeit gibt es nur wenige Studien, die untersuchen, warum bzw. unter welchen Umständen einige Menschen PCE einnehmen, andere aber nicht. Zudem beruhen viele dieser Studien nicht auf Zufallsstichproben und sie sind eher deskriptiver oder korrelativer Natur. Zusammen mit meinen Kollegen Sebastian Sattler, Peter Graeff und Carsten Sauer vermeiden wir diese Probleme, indem wir in großen Zufallsstichproben Experimente durchführen. Dabei konfrontieren wir die Teilnehmer mit fiktiven Medikamenten und variieren deren Nutzen, Nebenwirkungen, Beschaffungskosten und weitere Aspekte um dann zu erheben, ob die Befragten das Medikament einnehmen würden. Zusätzlich befragen wir die Teilnehmer hinsichtlich ihrer moralischen Einstellungen zu PCE, ihren Erfahrungen, nach der Verbreitung von PCE in ihrem Bekanntenkreis und erfassen weitere persönliche Merkmale, wie Risikobereitschaft. Unsere bisherigen Ergebnisse legen nahe, dass sehr viele Menschen gar nicht über Vor- und Nachteile von PCE nachdenken, sondern den Konsum verschreibungspflichtiger Medikamente zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit bereits aus moralischen Gründen kategorisch ablehnen. Hier wirkt Moral als Filter und PCE wird gar nicht erst als Alternative gesehen. Diejenigen Menschen, die allerdings wenige moralische Bedenken gegen den Konsum von PCE haben, reagieren sehr sensibel auf die Merkmale des Medikamentes und werden insbesondere abgeschreckt, wenn das Medikament starke und sehr wahrscheinliche Nebenwirkungen hat. Wird den Medikamenten in den Experimenten hingegen ein hoher Nutzen bei vergleichsweise geringen Kosten zugeschrieben, dann steigt die Einnahmebereitschaft. In Zukunft werden wir zudem verschiedene Berufsgruppen und die Veränderung des individuellen Konsumverhaltens über die Zeit hinweg untersuchen.
Weiterführende Literatur:
Sattler, S., & Schunck, R. (2016). Associations between the big five personality traits and the non-medical use of prescription drugs for cognitive enhancement. Frontiers in psychology, 6, 1971.
Sattler, S., Sauer, C., Mehlkop, G., & Graeff, P. (2013). The rationale for consuming cognitive enhancement drugs in university students and teachers. PloS one, 8(7), e68821.