Zwischen Hoffnung und Ungewissheit – Syrien nach dem Umsturz

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Nach dem Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Asad am vergangenen Wochenende steht das Land vor einer ungewissen Zukunft. Werden sich die Rebellengruppen auf eine Verteilung der Macht einigen können oder führt das aktuelle Machtvakuum zu neuer Gewalt im Land? Aus aktuellem Anlass hat Birgit Schäbler, Professorin für die Geschichte Westasiens an der Universität Erfurt, einen Gastbeitrag für unseren “WortMelder”-Blog geschrieben. Sie kennt Syrien seit den 1990er-Jahren und lebte von 2017 bis 2023 im Libanon, wo sie das dortige Orient-Institut leitete. Eine persönliche Einordnung und Einschätzung der Lage in einem Land zwischen Hoffnung und Ungewissheit…

Schon am Samstag hatten die Menschen im südsyrischen Deraa, wo vor 13 Jahren Jugendliche mit ihren regimekritischen Graffiti den “syrischen Frühling” auslösten, gefeiert. Während das Regime noch verkündete, es habe einen stabilen Sicherheitsring um Damaskus gelegt, stürzten sie bereits Statuen von Baschar al-Asad, dem verhassten Präsidenten und letzten der Diktatoren, die die “Revolutionen” des arabischen Frühlings von 2011 aufs Korn genommen hatten. Am Sonntag stürzte der Präsident dann selbst. Die Rebellengruppe zur “Befreiung Syriens” Hai’at Tahrir al-Scham (HTS) unter Führung von Abu Mohammed al-Jolani marschierten nach knapp elf Tagen ihrer Offensive kampflos in Damaskus ein, öffneten die Tore des berüchtigten Foltergefängnisses in Sednaya und befreiten Tausende politischer Häftlinge. Damit haben es die malträtierten Syrer*innen nach 13 blutigen Jahren, in denen syrische und kurdische Rebellen und Jihadisten aus aller Herren Länder gegen das Regime, aber auch gegeneinander kämpften, geschafft, sich aus eigener Kraft ihres verhassten Herrschers zu entledigen. Dieser floh nach Moskau, das ihm “aus humanitären Gründen” Exil gewährte. Die Armee erklärte die Herrschaft der Assads offiziell für beendet. Der Ministerpräsident wartete am Sonntagmorgen in seinem Büro auf die Rebellen, um eine friedliche Machtübergabe zu gewährleisten. Diese brachten ihn zunächst ins Hotel “Vier Jahreszeiten”.

Wie konnte das Asad-Regime, das seit 1970 in Syrien an der Macht ist, so rapide fallen? 

Der Präsident hatte bereits seit Jahren die Kontrolle über so gut wie alle Grenzgebiete seines Landes verloren. Ohne die militärische Unterstützung Russlands, des Iran und seiner Verbündeten wäre Asad bereits 2015 besiegt worden. Im Norden etablierten bewaffnete Rebellen mit Unterstützung der Türkei über die Jahre zivile Verwaltungseinheiten, vor allem in Idlib. Dort stellten sie auch selbst Drohnen her, die ihnen bei ihrem schnellen Vormarsch zuerst auf Aleppo und dann auf die Städte Hama und Homs halfen. Die Hai’at Tahrir al-Scham, die Gruppe zur Befreiung Syriens wurde dort stärkste Kraft.

Im Nordosten und Nordwesten kontrollieren die Syrischen demokratischen Kräfte unter Führung von Kurdenmilizen das riesige Gebiet der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES), etwa 30 Prozent des syrischen Territoriums. Sie sind der Türkei ein Dorn im Auge, haben aber mit den USA zusammen die Terrormiliz Islamischer Staat bekämpft. Im Süden haben ebenso zivile Einrichtungen die Behörden des Staates ersetzt, die von Dutzenden bewaffneter Gruppen geschützt wurden, die das Regime bekämpften. Im Westen war es Hisbollah, die zusammen mit der libanesischen Armee die Westgrenze Syriens kontrollierte, und im Osten kontrollieren die mit dem Irak verbündeten Volksmobilisierungskräfte die östlichen Grenzgebiete. 

Asads Herrschaft beschränkte sich auf die zentralen syrischen Städte sowie das Stammland seiner ethnisch-religiösen Gruppe, der Alawiten, im Nordwesten, die auch größtenteils Armee und Geheimdienst bestückten. Um eine Wiederherstellung der territorialen und nationalen Einheit des Landes ging es ihm schon lange nicht mehr, sondern nur noch darum, sich und seine “Clique” am Leben zu erhalten. Während sich die kleptokratischen Vertrauten Asads bereicherten – auf den Flughäfen westlicher Metropolen konnte man deren Familien treffen, die nach Luxus-Shopping-Wochenenden goldbehängt und im Designer-Outfit nach Hause flogen, darbte – und darbt – die syrische Bevölkerung. Syriens Wirtschaft liegt am Boden, 90 Prozent der Bevölkerung lebt an und unter der Armutsgrenze. Um sich und sein Umfeld zu finanzieren, verwandelte Asad Syrien in einen “Narco-Staat”, dessen Haupteinnahmequelle in den vergangenen Jahren die billige Droge Captagon war, mit der er die arabischen Nachbarstaaten überschwemmte. Auch bei getöteten Hamas-Milizionären wurde am 7. Oktober 2023 reichlich Captagon gefunden. Asads Zusage, den Schmuggel der Droge in die arabischen Golfstaaten zu unterbinden, führte zuletzt zu seiner Wiederaufnahme in die Arabische Liga – dem Versprechen folgten allerdings keine Taten.

Die Armee, zermürbt von 13 Jahren Krieg, befindet sich in einem desolaten Zustand: Schlechte Bezahlung, schlechte Ausrüstung und Korruption veranlassten sie am Ende, Waffen und anderes Gerät zu verkaufen. Erst im allerletzten Moment, vor einigen Tagen, erhöhte das Regime den Sold um 50 Prozent – da war es bereits zu spät. Die Soldaten entledigten sich am Sonntag beim Verlassen der Kasernen ihrer Uniformen – und warfen sie einfach weg. Das sprach Bände, auch über ihre Furcht vor dem Kommenden. Am Ende wollte niemand mehr für Asad kämpfen und ihn auch niemand mehr unterstützen. Seine Hauptunterstützer – Russland und Iran – waren seit Längerem unzufrieden mit ihm, ihre Kräfte anderweitig gebunden: im Fall Russlands in der Ukraine, im Fall des Iran durch den Krieg mit Israel geschwächt. Putin hat auch nie Asad persönlich unterstützt, sondern seine eigenen Interessen in Syrien: den russischen Mittelmeer-Flottenstützpunkt in Tartous und eine Luftwaffenbasis etwas weiter nördlich. Jüngste Anzeichen sprechen dafür, dass auch Mohammed al-Jolani pragmatisch ist und sich auf Verhandlungen einlässt.

Wer ist Ahmed al-Jolani?

Der 42-jährige Rebellen-Chef ist kein Unbekannter, tritt aber erst jetzt ins Rampenlicht. Als Ahmed al-Scharaa 1982 in eine Familie geboren, die im Krieg von 1967 von den syrischen Golan-Höhen vertrieben wurde, wuchs in Damaskus auf, wo er bei seinem Vater in dessen Lebensmittelgeschäft arbeitete. Nach dem 11. September 2001 und Präsident George W. Bushs “Krieg gegen den Terror”, der den gesamten Nahen Osten destabilisierte und al-Qaida sowie dem “Islamischen Staat” zum Aufstieg verhalf, reiste er nach Bagdad, um gegen die dortige US-Invasion zu kämpfen. Er schloss sich zunächst der Gruppe “al-Qaida im Irak” an. Um 2005 wurde er, damals 25 Jahre alt, in Mosul verhaftet. Fünf Jahre verbrachte er im größten US-Gefangenenlager Iraks, al-Bucca, in dem zwischen 2003 und 2009 mehr als 30.000 Gefangene interniert waren und das als Keimzelle der Terrororganisation “Islamischer Staat” (IS) gilt. Dort traf er Abu Bakr al-Bagdadi, der im Namen des IS das Kalifat Im Irak und in Syrien ausrief. 

Es war dort, dass sich Ahmed al-Sharaa den Kriegernamen Abu Mohammad “al-Jolani” ('der vom Golan stammt', ausgesprochen ‚al-dschaulani‘) zulegte. Al-Bagdadi sandte ihn 2011 zurück nach Syrien, um gegen Asad zu kämpfen, der begonnen hatte, die revolutionären Proteste mit Gewalt niederzuwerfen. Al-Jolani gründete darauf die Nusra-Front (Jabhat al-Nusra) und verweigerte al-Bagdadi, der sie in den IS eingliedern wollte, die Gefolgschaft. Er trennte seine Front auch von al-Qaida ab und benannte sie in die “Front zur Befreiung Syriens” um. Nach einer Fusion mit anderen Gruppen entstand 2016 Ha‘ait Tahrir al-Sham, eine Truppe, die besser ausgebildet und ausgerüstet war als die syrische Armee. In Idlib stellte sie eine Regierungsstruktur mit dem Namen “Syrische Heilsregierung” (nach der libyschen “Nationalen Heilsregierung”) auf, die über vier Millionen Menschen herrschte. 

Al-Jolani versprach Toleranz gegenüber den religiösen Minderheiten Syriens. Er besuchte sogar Kirchen und sicherte den Drusen, einer heterodoxen Gruppe im Islam, die im Norden Syriens schikaniert worden war, zu, solches zu unterbinden. Er strebe neue politische Strukturen an, die die Breite der syrischen Gesellschaft widerspiegeln, ließ er wissen. Die Frage ist, was mit den Alawiten, der anderen heterodoxen Gemeinschaft, die nun weithin als untrennbar vom verhassten Assad-Clan gilt, deren Mitglieder aber mitnichten gesammelt hinter diesem steht, geschieht. Alawiten, die in vielen Städten Syriens lebten, haben sich aus Furcht vor einem Massaker bereits in ihr Kernland zurückgezogen. 

Al-Jolani hat sichtbar einen Mäßigungsprozess durchlaufen. Auch die Verwendung seines bürgerlichen Namens und einer militärischen Uniform (anstelle eines jihadistischen Outfits) sollen diese Mäßigung wohl unterstreichen. Obwohl die USA ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt haben, konnte er sich in den vergangenen vier Jahren unbehelligt in Syrien bewegen und zu westlichen Regierungen, zuletzt auch zum Iran, Verbindungen aufnehmen. Er hat die Gelegenheiten, die sich ihm boten, genutzt. Nun ist sie also da, die einerseits so herbeigesehnte und gleichzeitig auch gefürchtete “Stunde Null” nach dem Fall des Regimes. 

Israel hat sofort nach dem Fall Asads, den es als zuverlässig einstufen konnte, eine weitere Front eröffnet und Truppen auf südsyrisches Gebiet um den Hermon verlegt. Die Bewohner mehrerer Dörfer wurden aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen. Israel bombardierte zudem mehrere Gebäude der Armee in der Hauptstadt Damaskus. Die USA flogen Angriffe auf Stellungen des IS im Norden des Landes. Von der Türkei unterstützte Oppositionsgruppen haben die Stadt Manbij im Norden Syriens eingenommen, die bisher von den Syrischen demokratischen Kräften gehalten wurde. Diese werden von den kurdisch geführten Volksverteidigungseinheiten geschützt, die ihrerseits von den USA unterstützt werden. Der Türkische Präsident Erdogan ließ zwar Asad fallen, will aber seinen Einfluss auf die kurdischen Gebiete Syriens nicht aufgeben, um der PKK keinen Raum zu geben. Ob die Türkei dem befreiten Nachbarland die Chance geben wird, selbstständig und friedlich über sein Territorium zu entscheiden, ist derzeit offen.

Wie weiter?

Angesichts der massiven Einmischungen und Interessen auswärtiger Mächte ist es mir wichtig, festzuhalten, dass es der syrischen Bevölkerung überlassen werden muss, welche neuen Institutionen sie sich geben will und wie sie einen Prozess der Heilung im Inneren gestaltet. Hier ließe sich viel vom negativen Beispiel des Libanons lernen, der seinen eigenen Bürgerkrieg nach wie vor nicht aufgearbeitet hat und eine Kultur der Amnesie und Straflosigkeit pflegt. Ob die geschwächte Hisbollah, die durchaus staatstragende Tendenzen besitzt, sich auf eine politische Rolle und die Eingliederung in die Armee im Libanon beschränken lässt, ist offen, aber eine theoretische Möglichkeit. Frühere syrische Diktatoren haben das Exil nicht überlebt. Baschar al-Asad und seine Hauptschergen müssen vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden. 

Was die größere politische Lage betrifft, so scheint es, dass Yahya Sinwars Rechnung, sein Angriff auf Israel werde die Karten im Nahen Osten neu mischen, aufgeht – nur nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Im Gegenteil: Der Iran, der erklärt, sich in “ideologischer Gegnerschaft” zu Israel zu befinden (nicht in religiös-antijudaistischer, wohlgemerkt) hat seine ‚Vorne-Verteidigung‘, den Ring, den er mit seinen Verbündeten um Israel gelegt hatte, bis auf die Houthis im Jemen, verloren. Zehn Jahre kostspieliger Bündnisse mit Syrien und die massive Aufrüstung der Hisbollah haben sich nicht ausgezahlt. Der Iran wird seine Lehren daraus ziehen. 

Mit dem möglichen Ende des jahrelangen Schattenkrieges – und zuletzt heißen Krieges – zwischen Israel und dem Iran könnte eine Stabilisierung in der ganzen Region eintreten, wenn man den Iran, ein Land mit zu viel Gewicht und Größe, um als Paria behandelt zu werden, aus dieser Ecke herausholt. Hier sind vor allem die USA gefragt, die seit der Botschaftsbesetzung 1979 durch revolutionäre Studenten keine diplomatischen Beziehungen zu dem Land pflegen und unverhohlen den Sturz des Regimes gefordert haben. Wie sich der Iran politisch entwickelt, der auch über gemäßigte, jüngere Politiker verfügt, muss den Iraner*innen überlassen werden.

Ohne den Iran als Gegner müsste auch Israel seine Politik gravierend ändern. Anstelle der Expansionsgelüste von Rechtsextremen müsste eine Lösung für die Palästinenser*innen gefunden werden, um im Frieden mit den Nachbarn im Nahen Osten zu leben.

Das Ausland, vor allem der Westen, ist aufgerufen, sich im Inneren der Staaten zurückzuhalten. Zu viel Schaden hat westliche Außenpolitik in den vergangenen Jahrzehnten angerichtet. 

Es ist, zugegeben, unendlich schwer, sich angesichts der desolaten Lage im Nahen Osten eine solche Entwicklung vorzustellen. Aber es war – bis gestern – auch nicht vorstellbar, dass Syrien nach 13 Jahren Krieg von einem Tag auf den anderen seinen Diktator “loswerden” würde. In einem solchen Augenblick muss es dann auch erlaubt sein, einmal positiv in die Zukunft zu blicken.    

Kontakt:

Inhaberin der Professur für Geschichte Westasiens
(Historisches Seminar)