Naturkatastrophen und Seuchen haben seit jeher ihre Spuren in der Frömmigkeitsgeschichte hinterlassen. Die Kirche kennt zahlreiche Praktiken, mit denen sie auf eine vermeintliche „Strafe Gottes“ reagiert. Doch überlebte Frömmigkeitsformen sollte man dort belassen, wo sie hingehören, nämlich „in der Vergangenheit“, befindet der Erfurter Liturgiewissenschaftler Prof. Dr. Benedikt Kranemann. Stattdessen müsse die christliche Liturgie „nüchtern aus Glauben“ leben und auch in Krisenzeiten allem voran eines tun: Lebensmut schenken.
Gastbeitrag von Prof. Dr. Benedikt Kranemann
Katastrophen wie das SARS-CoV-2-Virus begleiten die Menschheitsgeschichte. Lange wurden sie als Strafe Gottes für menschliche Sünden verstanden. Deshalb waren vor allem Bußübungen, Messfeiern, Anrufung um die Hilfe von Heiligen, Gelübde, Bittprozessionen eine probate Hilfe. Menschen sorgten sich um das eigene Seelenheil und das der anderen. Daher Gelübde wie jenes, auf das die Passionsspiele von Oberammergau zurückgehen. Deswegen die Anrufung Mariens und anderer Heiliger, für die Pestsäulen steingewordene Erinnerung sind. Darum die Durchführung von Prozessionen, die in vergangenen Jahrhunderten gegen Seuchen eingerichtet wurden und zum Teil bis heute bestehen.
Die historischen Szenarien waren dramatisch. So wird von Prozessionen berichtet, zu denen Menschen barfuß und mit Kerzen in den Händen erschienen. Man fastete, um sich vor Gott als Büßer zu zeigen. Menschen lebten in Angst vor der Katastrophe, aber bäumten sich auch dagegen auf. Sie hofften, Gott gnädig stimmen zu können. Manche nur historisch verständliche Praktiken leben in der Gegenwart fort oder werden neu belebt. Theologisch wird man das jeweils kritisch hinterfragen müssen. Vor allem: Eine Pandemie wie die, die jetzt die Welt lahmlegt, ist keine Strafe Gottes – für was auch immer. Religiöse Praktiken wie Gottesdienste können sie nicht erklären – und sollten das auch nicht versuchen. Überlebte Frömmigkeitsformen der Geschichte sollte man dort belassen, wo sie hingehören – in der Vergangenheit.
Solche Katastrophen und Pandemien wie das Erdbeben von Lissabon oder die Spanische Grippe haben in der Frömmigkeitsgeschichte ihre Spuren hinterlassen. Sie haben Weltbilder erschüttert und auch Glaubenspraxis verändert. Christliche Liturgie kann heute nicht mehr triumphalistisch daherkommen, sondern muss nüchtern aus Glauben leben. Sie steht in der Spannung von Karfreitag und Ostermorgen, von Grab und Auferstehung Jesu Christi. Unter diesem Niveau geht es nicht! Trauer, Angst, Klage müssen zum Ausdruck kommen können. Das, was Menschen bewegt, hat im Gottesdienst seinen Ort. Wo das verdrängt wird, entfernt sich Liturgie von ihrem biblischen Fundament, verleugnet sie ihre Geschichte – und verhöhnt sie letztlich Menschen. Menschen in Städten wie Bergamo müssen ihre Klage herausschreien können.
Aber: Liturgie lebt ebenso von Ostern, von jener Botschaft, die besagt: Der Tod, die Katastrophe schlechthin, hat nicht das letzte Wort. Das erzählt die Liturgie noch und noch. Wer mit dieser Perspektive Gottesdienst feiert, stemmt sich dagegen, für sich und andere das Leben aufzugeben. Er setzt auf das Leben. In so gestimmten Gottesdiensten drückt sich Lebensmut aus – gegen alle Verzweiflung. Sie sollen nicht Vertröstung, sondern Trost und Perspektive geben. Sie lassen Menschen in ihrer Verzweiflung nicht allein, sondern verbinden sie zur Gemeinschaft, heute auch über die sozialen Medien und über vielfältige religiöse Netzwerkinitiativen. Offensichtlich ist es gegenwärtig für viele ein Anliegen, auch religiös mit der derzeitigen Krise umzugehen, das eigene kritische Fragen nicht zu unterdrücken, aber auch die Hoffnung nicht aufzugeben. Damit stehen Menschen in einer langen Geschichte, auch wenn sie in der Gegenwart ihre Hoffnung berechtigt anders zum Ausdruck bringen.