Schon wochenlang vor dem Fest stressen wir uns mit Geschenkeeinkauf, schieben uns mit weihnachtsmützetragenden Glühweinliebhabern über die vollen Weihnachtsmärkte und planen die Feiertage terminlich exakt durch, um möglichst viele Familienmitglieder und Freunde unter einen Hut zu bekommen. „Weihnachten ist reine Nervensache“ – und von allen möglichen „Verfügbarkeiten“ geprägt, von der Erreichbarkeit für die Liebsten bis hin zur Last Minute-Geschenkbestellung im Internet. So sind der Sinn und die Besinnlichkeit des Weihnachtsfestes vielen abhanden gekommen. In seinem neuen Büchlein „Unverfügbarkeit“, das soeben im Residenz-Verlag erschienen ist und als Ergänzung zu seinem vielfach prämierten Werk „Resonanz“ gelesen werden kann, plädiert Hartmut Rosa für eine Gesellschaft, die der Verfügbarkeit der Welt Grenzen setzt. „WortMelder“ hat den Soziologen und Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt zum Fest gefragt: „Wie könnte uns Unverfügbarkeit zu einem entspannteren Weihnachtsfest verhelfen, Herr Professor Rosa?“
„Diese Frage klingt so, als könne man ‚Unverfügbarkeit‘ bestellen und schon entspannt sich das Weihnachtsfest. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Mit Unverfügbarkeit ist ja gerade gemeint, dass wir nicht alles im Griff haben können; dass wir zulassen müssen, dass Dinge ungeplant bleiben; dass sich Pläne anders entwickeln als wir das wünschen; dass man in der ruhigsten Weihnachtsoase doch nicht zur Ruhe kommt oder dass sich Einkehr und Besinnlichkeit gerade im größten Stress ereignen. In meinem Buch habe ich dieses Phänomen der Unverfügbarkeit mit dem ersten Schneefall im Winter verglichen: ‚Der Schneefall ist geradezu die Reinform einer Manifestation des Unverfügbaren: Wir können ihn nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht einmal sicher vorherplanen, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Und mehr noch: Wir können des Schnees nicht habhaft werden, ihn uns nicht aneignen: Wenn wir ihn in die Hand nehmen, zerrinnt er uns unter den Fingern, wenn wir ihn ins Haus holen, fließt er davon, und wenn wir ihn in die Tiefkühltruhe packen, hört er auf, Schnee zu sein. Vielleicht sehnen sich eben deshalb so viele Menschen – nicht nur die Kinder – nach ihm, vor allem an Weihnachten.‘
Unverfügbarkeit ist eine Alltagserfahrung, die wir alle machen – das Problem daran ist, dass wir mit allen Mitteln versuchen, unseren Alltag, unser Leben, die Welt verfügbar zu machen. Daher fehlt es nicht an Versuchen, auch den Schnee verfügbar zu machen: ‚Wintersportorte werben mit Schneegarantie und präsentieren sich als schneesicher. Sie helfen mit Schneekanonen nach und entwickeln Kunstschnee, der auch bei 15 Grad plus noch durchhält. In unserem Verhältnis zum Schnee spiegelt sich das Drama des modernen Weltverhältnisses wie in einer Kristallkugel: Das kulturelle Antriebsmoment jener Lebensform, die wir modern nennen, ist die Vorstellung, der Wunsch und das Begehren, Welt verfügbar zu machen. Lebendigkeit, Berührung und wirkliche Erfahrung aber entstehen aus der Begegnung mit dem Unverfügbaren. Eine Welt, die vollständig gewusst, geplant und beherrscht wäre, wäre eine tote Welt.‘ Wie in meinen Buch zur Resonanz bereits entwickelt, gehe ich davon aus, dass Resonanzerfahrungen eine erreichbare Welt voraussetzen, aber nicht eine (grenzenlos) verfügbare Welt. Die Verwechslung von Erreichbarkeit und Verfügbarkeit liegt an der Wurzel des Weltverstummens der Moderne. Das Weihnachtsfest, bei dem Christen daran erinnern, dass ein Gott der Liebe sich in einem Kind für die Menschen erreichbar macht und ihnen begegnet, aber zugleich unverfügbar bleibt, ist vielleicht ein geeignetes Zeichen, das uns moderne Menschen daran erinnert, dass das Wunder von Resonanzerfahrungen in der Begegnung liegt und nicht darin, dass wir das Fest perfekt durchgeplant haben. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und allen Lesern kein ‚entspanntes‘ Weihnachtsfest, sondern eines mit Resonanzerfahrungen – mit Menschen, die uns begegnen, Geschenken, die uns berühren, vielleicht einem Göttlichen, das uns bewegt, und natürlich mit viel Schnee.“