Heute jährt sich der Mord an dem Blumenhändler Enver Simsek zum 20. Mal. Die Gewalttat war der Auftakt einer rechtsradikalen und muslimfeindlichen Mordserie, die später als die NSU-Morde bekannt werden sollte – und die ein Ausdruck des tiefliegenden gesellschaftlichen Problems der Muslimfeindlichkeit in Deutschland ist. Um diese anzugehen, berief Horst Seehofer letzte Woche zwölf Vertreter*innen aus Wissenschaft und Praxis in den neu gegründeten Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM) des Bundesinnenministeriums. Einer von ihnen ist Prof. Dr. Kai Hafez von der Universität Erfurt. WortMelder hat bei dem Professor für Kommunikationswissenschaft nachgefragt: „Welche Bedeutung hat die Gründung eines solchen Expertenrats und was ist sein Ziel, Prof. Dr. Hafez?“
„An der Gründung des UEM merkt man, dass die Bundesregierung endlich Farbe bekennt. Viele, die die steigende Muslimfeindlichkeit in Deutschland schon länger beobachten oder gar darunter leiden, haben sich das schon lange gewünscht. Denn Anzeichen davon, wie tiefgreifend das Problem in unserer Gesellschaft ist, gibt es genügend. So haben wir in Deutschland seit Jahrzehnten Indikatoren in öffentlichen Meinungsumfragen und von wissenschaftlichen Studien, dass Islamfeindlichkeit in der Bevölkerung sehr verbreitet ist. Hier geht es nicht um eine begründete Angst oder Kritik an islamistischen Terroristen etwa nach Terrorattentaten, die ich selbstverständlich teile, sondern um langfristige und historisch geprägte pauschale Aversionen gegenüber dem Islam, die ebenso tief verwurzelt sind wie der Antisemitismus. Islamfeindlichkeit ist ein weltweites Phänomen, in Deutschland ist es aber sogar stärker als in manchen anderen europäischen Ländern wie in Großbritannien oder Frankreich, weil wir historisch gesehen erst recht spät in Kontakt mit dem Islam gekommen sind, es keine Kolonialerfahrung gibt und die Einwanderungsgesellschaft hierzulande eine jüngere ist.
Bisher war Islamfeindlichkeit eher eine Problematik auf niedrigschwelliger Ebene, die man im Bereich der Alltagsdiskriminierung verorten konnte. Der Islam ist in Deutschland einfach schlecht angesehen. Es tauchen sehr viele negative Bilder auf, positives Wissen über die islamische Welt ist fast gar nicht vorhanden. Es gibt Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche usw. Diese langfristigen Dinge haben wir seit Jahrzehnten beobachtet, ich schreibe darüber seit 25 Jahren. Jetzt kommen allerdings noch andere Faktoren hinzu: die Zunahme antimuslimischer Gewalttaten, zu denen man auch die NSU-Morde zählen muss. Bei den ausländerfeindlichen Morden insgesamt, von denen es in Deutschland laut einer Erhebung von DIE ZEIT seit der Wiedervereinigung mehr als 160 gegeben hat, entfällt ein großer Teil auf Muslime und Orientalen. Das heißt, wir haben eine deutliche Zunahme von antimuslimischen Gewalttaten, nicht nur Morde, auch Übergriffe auf Moscheen und Ähnliches – ein Parallelgeschehen zum Antisemitismus, bei dem ebenfalls eine Zunahme zu verzeichnen ist. Es besteht ein diskursiver Zusammenhang zwischen Ereignissen wie in Hanau, den Morden der NSU oder dem Massaker von Christchurch. Hinzu kommt die neue Politisierung und Radikalisierung der Islamfeindlichkeit. Zahlreiche Untersuchungen zeigen: Der Islam ist das Hauptfeindbild der Rechtsradikalen, Rechtspopulisten und Rechtsextremen.
Aus der Summe dieser Dinge heraus hat die Bundesregierung die Folgerung gezogen, dass man grundsätzlich noch einmal fragen muss, wie diese Situation verbessert werden kann. Die Erfolge der AfD und die antidemokratischen rechtsradikalen Strategien – Stichwort Kemmerich – haben hier womöglich das Ihrige getan. Die Vorstellung, dass Kräfte mit verfassungsfeindlichen Zielen vielleicht die Regierungsverantwortung übernehmen, die ist vielen im politischen Raum unheimlich geworden. Ich glaube, das hat man lange unterschätzt. Nun scheinen viele Institutionen aufzuwachen. Das erkennt man zum Beispiel an der Neustrukturierung des Verfassungsschutzes und an neuen ressortübergreifenden Beratungsstrukturen. Man beginnt zu erkennen: den verfassungsfeindlichen Rechtsradikalismus kann man nur erfolgreich bekämpfen, wenn man Islamfeindlichkeit bekämpft und gesellschaftliche Vorurteile an der Wurzel packt.
Unser Gremium wird sich im Auftrag der Bundesregierung jetzt innerhalb von zwei Jahren beraten, was gegen Muslimfeindlichkeit getan werden kann. Bei der Erarbeitung finde ich es besonders wichtig, verschiedene Perspektiven einzubeziehen. Deshalb ist es lobenswert, dass der UEM nicht allein aus Wissenschaftler*innen besteht, sondern auch aus erfahrenen Praktiker*innen, die Alltagsprobleme von Islamfeindlichkeit sehr gut verdeutlichen können. Auch der Einbezug der Gesellschaft wird wichtig sein, um die wissenschaftliche Expertise noch durch Dialogformate zu ergänzen. Denn jeder hat seine Perspektive, gerade auch die Betroffenen. Am Ende werden wir einen umfangreichen Maßnahmenkatalog vorlegen. Unsere Vorschläge müssen dabei aber über die gängigen Reformen hinausgehen und strukturell tief greifen. Alle Systeme müssen betrachtet werden: Es bedarf einer Medienreform, rechtlicher Reformen, struktureller Veränderungen, Strategien zur Unterstützung der Zivilgesellschaft und nicht zuletzt einer Reform des Bildungssystems. Schauen wir uns allein die Lehrpläne deutscher Schulen in Geschichte und Politik an: Das Wissen über die islamische Welt, das da vermittelt wird, ist unbrauchbar und zu rudimentär, als das sich jemand ein ausgewogenes Bild machen könnte. Und darum geht es schließlich. Sonst bekämpft man immer nur die Symptome und nie die Ursachen. Wenn man einmal auf die Wählerschaft der AfD blickt, sieht man, dass das nicht nur Rechtsradikale oder allgemein ausländerfeindliche Menschen sind, sondern zumindest teilweise Bürger aus der Mitte der Gesellschaft, die ein antimuslimisches Programm wählen. Genau da müssen wir ansetzen. Wie das zu schaffen ist, gerade auch in Bezug auf die Bildungspolitik, die ja Ländersache ist, muss sich allerdings erst noch erweisen.“