Nachgefragt: "Welche Bedeutung hat der Dreißigjährige Krieg bis heute, Herr Dr. Meumann?"

Gastbeiträge

Heute jährt sich der sogenannte Prager Fenstersturz und damit der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges zum 400. Mal. In seinem ganzen Ausmaß markiert er ein Ereignis, dass sich tief in das Bewusstsein der Deutschen eingebrannt hat und nachhaltige Folgen mit sich brachte. WortMelder hat bei Dr. Markus Meumann, Historiker und Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Forschungszentrums Gotha, nachgefragt: „Welche Bedeutung hat der Dreißigjährige Krieg bis heute, Herr Dr. Meumann?“

Dr. Markus Meumann
Markus Meumann

„Am 23. Mai 2018 sind es auf den Tag genau 400 Jahre, dass bewaffnete Vertreter der böhmischen Stände in einen Saal der Prager Burg eindrangen und die beiden kaiserlichen Statthalter Wilhelm Slavata und Jaroslav Martinitz sowie deren Sekretär Philipp Fabricius kurzerhand aus dem Fenster warfen. Mit diesem als ‚Prager Fenstersturz‘ bekannt gewordenen Ereignis begann nach üblicher Lesart der Dreißigjährige Krieg, der sich schnell zu einem umfassenden, weit über Böhmen hinaus ausgreifenden Konflikt auswuchs, in den nach und nach die meisten europäischen Mächte eingriffen und der nicht nur Deutschland, sondern weite Teile Mitteleuropas in Mitleidenschaft zog, Dörfer und Städte verheerte und weite Landstriche wüst und weitgehend entvölkert zurückließ, auch wenn das Kriegsgeschehen zwischendurch immer wieder einmal Pausen einlegte und das Bild der Zerstörungen regional sehr differenziert betrachtet werden muss. Trotz mehrerer Anläufe, den Krieg früher zu beenden – etwa im Lübecker Frieden zwischen dem Kaiser und dem dänischen König Christian IV. (1629) oder dem Prager Frieden, der schon 1635 den Konflikt zwischen dem Kaiser und den Reichsständen weitgehend beilegte –, gelang es erst 1648, nach mehrjährigen Verhandlungen, an denen neben dem Kaiser auch die übrigen europäischen Großmächte Schweden, Spanien und Frankreich sowie die niederländischen Provinzen beteilig waren, den Kriegshandlungen im Heiligen Römischen Reich mit dem Westfälischen Frieden ein Ende zu setzen.

Wechselnde Deutungen

Die Bedeutung des Dreißigjährigen Krieges und des ihn beendenden Friedensschlusses ist im Laufe der Jahrhunderte unterschiedlich beurteilt worden und hat sich insbesondere im Hinblick auf den Westfälischen Frieden mehrmals gewandelt. Wurde dieser bis zum Ende des Alten Reiches 1806 als wesentlicher und selbstverständlicher Teil der Reichsverfassung angesehen und damit überwiegend positiv bewertet, galt er den Zeitgenossen des 19. und mehr noch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „Schandfrieden“, der ähnlich demjenigen von Versailles die politische Ohnmacht Deutschlands besiegelt und eine Nationalstaatsbildung auf Jahrhunderte hinaus verhindert habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sich diese Einschätzung allmählich zu wandeln, bis der Westfälische Frieden schließlich im Licht des europäischen Einigungsprozesses als ebenso komplexes, weil multilateral ausgehandeltes, wie weitsichtiges, den Ausgleich zwischen den beteiligten europäischen Mächten herbeiführendes Vertragswerk von zukunftsweisender, fast visionärer Bedeutung erschien, das in der in den beiden ‚Friedensstädten‘ Münster und Osnabrück anlässlich des 350-jährigen Jubiläums 1998 gezeigten Europaratsausstellung ‚1648 – Krieg und Frieden in Europa‘ entsprechend emphatisch gewürdigt wurde.
Was den Krieg selbst betrifft, so wurde dieser ebenfalls im Zuge von Französischer Revolution und Napoleonischen Kriegen von der Historiografie neu ‚entdeckt‘ (u.a. durch Friedrich Schiller) und galt fortan meist als Verhängnis und Tiefpunkt der deutschen (National-) Geschichte. An dieser Deutung, die seit dem mittleren 19. Jahrhundert durch die Popularisierung des Krieges und seiner in den Quellen höchst eindringlich geschilderten Gräuel und Leiden seitens einer prosperierenden Geschichtsforschung sowie einer national gesinnten Dichtung noch befördert wurde, hat sich bis heute im Grundsatz nichts geändert. Dies belegen eindrücklich die anlässlich des aktuellen Erinnerungsjahres erschienenen populärwissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftentitel, in denen vom Dreißigjährigen Krieg wahlweise als ‚deutsche Tragödie‘ (DIE ZEIT) bzw. als ‚Ur-Katastrophe‘ (DER SPIEGEL) oder auch ‚Ur-Trauma‘ (DIE WELT) der Deutschen zu lesen ist. Der Dreißigjährige Krieg gilt in dieser Sichtweise in erster Linie als die tiefgreifendste Kriegs- und Katastrophenerfahrung vor dem Zweiten Weltkrieg, die die Menschen auf Jahrzehnte hinaus traumatisiert habe. Daran änderten auch vereinzelte Versuche einer revisionistischen Interpretation nach 1945 nichts, die den inneren Zusammenhang der Krieges bezweifelten und die These von dessen alles zerstörender Wirkung radikal in Frage stellten, von der geschichtswissenschaftlichen Forschung der folgenden Jahrzehnte aber im Grundsatz widerlegt oder zumindest entkräftet wurden.

Universalität oder Einzigartigkeit des Dreißigjährigen Krieges?

Es ist diese Dimension eines universalen, in seinen einzelnen militärischen Aktionen, seinen Gewaltexzessen und seinen fatalen Folgen für die Bevölkerung kaum mehr überschaubaren Konfliktzusammenhangs, die die nicht nachlassende Attraktivität des Dreißigjährigen Krieges für Schriftsteller von Brecht über Grass bis hin zu Daniel Kehlmann ausmacht, der in seinem pünktlich zum Gedenkjahr 2018 erschienenen Roman ‚Tyll‘ den Krieg am Beispiel seines Protagonisten wie durch ein Kaleidoskop betrachtet. Aber auch die akademische Geschichtswissenschaft hat sich neben der politischen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in den letzten Jahren verstärkt der Erfahrungsperspektive der Protagonisten, der zivilen wie der militärischen, sowie der Mediengeschichte des Krieges zugewandt, was sich in den häufig auf zeitgenössische Wahrnehmungsweisen rekurrierenden Titeln der zum Jubiläum ebenfalls in beachtlicher Zahl erschienenen wissenschaftlichen Monografien und Sammelbände widerspiegelt. Die öffentliche Debatte bzw. die mediale Aufmerksamkeit konzentriert sich dabei freilich vor allem auf ein einziges Werk: das annähernd 1.000 Seiten umfassende, über mehrere Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste platzierte Buch des Berliner Politologen Herfried Münkler, ‚Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, Deutsches Trauma 1618–1648‘. Der Autor zeichnet darin keineswegs ein grundlegend neues Bild des Dreißigjährigen Krieges. Der Grund für das ihm und seinem Buch entgegengebrachte Medieninteresse dürfte vielmehr wesentlich dem Umstand geschuldet sein, dass Münkler, anders als die meisten geschichtswissenschaftlichen Autorinnen und Autoren, denen er wie ihrem Fach insgesamt ein eher ‚antiquarisches Interesse‘ am Dreißigjährigen Krieg vorwirft, diesem hohe Aktualität zuspricht, weil er ‚eine Blaupause für die Kriege des 21. Jahrhunderts‘ darstelle.

Ob der Dreißigjährige Krieg wirklich als ‚Analysefolie gegenwärtiger und zukünftiger Kriege‘ taugt, wie Münkler meint, kann an dieser Stelle nicht eingehend diskutiert werden und muss daher ebenso dahingestellt bleiben wie die Beantwortung der Frage, welcher Erkenntnisgewinn dabei für die Analyse oder gar Beilegung dieser heutigen Konflikte generiert wird. Dass das Buch der akademischen Geschichtswissenschaft, die dieses denn auch erwartbar kontrovers aufgenommen hat, die Deutungshoheit über den Dreißigjährigen Krieg streitig gemacht hat, mag mancher Historiker und manche Historikerin bedauern. Zugleich aber hat Münkler auf diese Weise den Dreißigjährigen Krieg noch stärker in den Fokus der Medien und damit ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit gebracht, als es ohne das Buch der Fall gewesen wäre, worüber letztlich auch Historikerinnen und Historiker froh sein müssen, selbst wenn sie mit Münklers Sichtweise nicht übereinstimmen. Ob der Dreißigjährige Krieg indes einer solchen Aktualisierung bedarf, um überhaupt noch breiteres Interesse zu finden, wie Münkler meint, darf allerdings wohl bezweifelt werden. Vielmehr zeigt der große Publikumserfolg eines historischen Romans wie Kehlmanns ‚Tyll‘ ebenso wie das auch jenseits historischer Jubiläen nachweisbare Medieninteresse am Dreißigjährigen Krieg sowie natürlich nicht zuletzt dessen ungebrochene Attraktivität für die historische Forschung, dass dieser ebenso universale wie einzigartige Konflikt des 17. Jahrhunderts vor allem in seiner Eigenschaft als exemplarische Kriegserfahrung auch jenseits tagesaktueller Fragen unmittelbare Relevanz besitzt. Dies kann unmittelbar nachvollziehen, wer sich mit dem Hintergrund eines heutigen Lesers beispielsweise an die Lektüre von Grimmelshauses ‚Simplicissimus‘ begibt. Ein wesentlicher Grund dafür ist die in unterschiedlichsten, ebenso zahlreichen wie vielfältigen Quellen und Medien überlieferte Selbstreflexion dieses Krieges durch die Zeitgenossen, die diesen zu einem ebenso faszinierenden wie schillernden, für die historische Forschung wie für künstlerische Bearbeitungen schier unerschöpflichen Kosmos macht.“