Neuesten Daten des Gesundheitsministeriums zufolge greifen sechs Prozent der Studierenden bei Prüfungen und anderen Stresssituationen des Studiums zu Medikamenten, die die Hirnaktivität steigern und kognitiv leistungsfähiger machen. Das ist nicht nur gesundheitlich, sondern auch soziologisch bedenklich – verschaffen sich Hirndoper damit doch ganz ähnlich wie Doper im Sport einen Vorteil gegenüber ihren Kommilitonen. Erste Stimmen werden bereits laut, bei Zunahme des Trends auch an Hochschulen Dopingtests einzuführen. Guido Mehlkop ist Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt und forscht zu den sogenannten Smart-Pills, also Tabletten, die vermeintlich schlauer machen sollen. WortMelder hat bei ihm nachgefragt: „Welche gesundheitlichen und soziologischen Auswirkungen hat das Hirndoping und wie sinnvoll könnten Dopingtests an Hochschulen sein, Professor Mehlkop?“
„Von Hirn-Doping sprechen wir, wenn gesunde Menschen Drogen oder Medikamente zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit einnehmen, obwohl das aus medizinischer Sicht nicht notwendig wäre. Das Ziel ist also, die eigene Leistungsfähigkeit über das ‚natürliche‘ Niveau hinaus anzuheben. Dabei wollen die Doper entweder erreichen, mehr Stoff in kürzerer Zeit zu lernen, ihre kognitiven Verarbeitungsprozesse zu beschleunigen oder ganz einfach weniger nervös während der Prüfung zu sein. Dementsprechend greifen sie auch zu unterschiedlichen Mitteln. Besonders beliebt scheinen Medikamente zu sein, die ursprünglich entwickelt worden sind, um Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) oder Narkolepsie zu therapieren. Gesunde Menschen müssen sich diese Mittel meist auf Schwarzmärkten besorgen – ich bleibe hier absichtlich vage und nenne keine genauen Wirkungsmittel, Wirkungswege oder Markennamen, um niemanden auf Ideen zu bringen.
Weil Medikamente nicht immer gleich wirken, gehen die Anwender vielfältige Risiken ein. Damit das Medikament den Nutzen – bessere Prüfungsleistungen – bewirken kann, muss die Dosierung auf jeden Menschen speziell zugeschnitten werden. Es ist aber für Laien ohne ärztliche Hilfe sehr schwer, die richtige Dosierung zu finden. Nimmt man zu wenig, passiert vielleicht gar nichts, nimmt man zu viel, wird die Leistung meist sogar verschlechtert als dies ohne Doping der Fall wäre. Zudem birgt so gut wie jedes Medikament auch das Risiko von Nebenwirkungen. Die Wahrscheinlichkeit, dass und wie diese Nebenwirkungen eintreten, kann variieren und auch die Schwere der Nebenwirkungen ist nicht zu vernachlässigen. Typische Nebenwirkungen reichen von Müdigkeit, Schwindel oder Übelkeit über langfristige Schädigungen von Leber oder anderen inneren Organen bis hin zu Persönlichkeitsstörungen, wie z.B. Schizophrenie. Wir sollten hier nicht vergessen, dass diese Medikamente ja nicht für gesunde Menschen entwickelt worden sind. Diese auf den ersten Blick individuellen Risiken können aber auch soziale Kosten verursachen, etwa wenn aufgrund von Medikamentenmissbrauch Kosten für das Gesundheitssystem entstehen, beispielsweise für langwierige Behandlungen. Dann müssen auch Menschen, die nie ein solches Medikament eingenommen haben, für die Spätfolgen der Doper aufkommen, die Gesundheitssysteme werden belastet. Weil einige dieser Mittel – etwa Kokain – illegal bzw. rezeptpflichtig sind, können außerdem bei Entdeckung auch strafrechtliche Kosten entstehen. Zumindest kann es passieren, dass die Einnahme bei einer Prüfung als Täuschungsversuch gewertet wird, was bis zur Exmatrikulation führen kann.
Doping allgemein und Hirn-Doping im Speziellen haben aber auch eine ethische Dimension und soziale Auswirkungen. Viele Wissenschaftler haben ein sehr hohes Berufsethos. Dieser beinhaltet die Verpflichtung zur Wahrheit und Aufrichtigkeit, Redlichkeit in der Anwendung wissenschaftlicher Methoden und Authentizität. Demnach sollte wissenschaftliche Arbeit nur der eigenen intellektuellen Anstrengung, Kreativität, Inspiration und Leistungsmotivation entspringen. Die Nutzung von Doping widerspricht diesen Normen und kann so als unethisches Verhalten (genau wie Plagiieren, Datenfälschung usw.) betrachtet werden. Zudem werden beim Doping Normen der Fairness verletzt. Falls solche Medikamente wirken und dadurch die Doper bessere Prüfungsleistungen erzielen sollten als diejenigen, die keinen Zugang zu diesen Mitteln haben, sie sich nicht leisten können oder solche Mittel nicht verwenden wollen (etwa aus Sorge um die eigene Gesundheit), haben Doper einen Vorteil. In einer solchen Konstellation können sich dann diejenigen, die bisher nicht gedopt haben oder nicht dopen wollen in Zukunft genötigt sehen, diesen Nachteil auszugleichen, indem sie ebenfalls dopen. Dies haben wir in verschiedenen Sportarten (wie beim professionellen Fahrradfahren) bereits beobachten können. Dann entsteht eine wahre ‚Doping-Epidemie‘. Bei gesunden Menschen mit statistisch normalem Leistungsvermögen stellt sich zudem Medizinern die Frage, ob man dem Begehren nach mehr Leistung einfach nachgeben sollte, ohne dass eine medizinische Notwendigkeit (wie Verletzung oder Krankheit) vorliegt – auch angesichts der Tatsache, dass die Nutzer starke Nebenwirkungen riskieren.
Jedoch gibt es auch Stimmen, wie die des Philosophen Nick Bostrom, der cognitive enhancement fördern will und (im Fall es gäbe ein absolut sicheres und nebenwirkungsfreies Doping) Wissenschaftler motiviert, über Doping nachzudenken, da wissenschaftliche Erkenntnisse ein Dienst an der Allgemeinheit seien und jedes Mittel genutzt werden müsse, um wissenschaftlichen Fortschritt zu erreichen. Dies korrespondiert mit sozialen Strömungen, welche die Selbstoptimierung propagieren und fördern wollen. Selbstoptimierung finden wir nicht nur im Bereich des Hirn-Dopings, sondern auch in der Forschung an Cyborg-Technologie bis hin zu etwas weniger abgefahrenen Dingen, wie dem Ideal eines durchtrainierten Körpers, Kosmetika oder Schönheitsoperationen. Ein Indiz für die These der ‚Selbstoptimierer-Gesellschaft‘ ist übrigens die zunehmende Verbreitung von Fitnessarmbändern, Smartwatches und entsprechenden Apps. Diese Gadgets sind Teil der Selbstoptimierungsvorstellungen und sollen uns helfen, gesünder und aktiver zu leben.
In unserer eigenen Forschung zu Braindoping interessieren uns vor allem die Entscheidungsprozesse, die erklären, warum manche Menschen Braindoping betreiben, andere aber nicht. Dazu haben wir zufällig ausgewählten Probanden in (quasi-)Experimenten Informationen über (fiktive) Medikamente gegeben: zu erwartende Leistungssteigerung, Wahrscheinlichkeit dieser Leistungssteigerungen, mögliche Nebenwirkungen und Eintretenswahrscheinlichkeiten der Nebenwirkungen. Dabei haben wir die Informationen über alle Probanden randomisiert, d.h. einige Probanden haben zufällig die Informationen erhalten, dass unsere fiktive Pille sehr gut und nur mit sehr geringen und unwahrscheinlichen Nebenwirkungen funktioniert, während andere Probanden zufällig die Informationen über ein sehr gefährliches Medikament erhalten haben. Gleichzeitig haben wir die moralischen und ethischen, also normativen Einstellungen der Probanden gegenüber Doping allgemein erhoben. Unsere Ergebnisse sprechen dafür, dass der Grad der Norminternalisierung mit dem Nutzen der Pille interagiert. Das bedeutet, dass Probanden, die Doping aus ethischen Gründen ablehnen, so gut wie gar nicht über Nutzen (und Kosten) nachdenken, sondern quasi automatisch die Einnahme der Pille ablehnen. Probanden hingegen, die keinerlei moralische Bedenken haben, wägen Nutzen und Kosten gegeneinander ab und würden bei einem positiven Nutzen-Kostenverhältnis zu dieser Pille greifen. Hier können wir also zeigen, dass a) ethische Einstellungen eine Art Rahmen für Doping bilden und b) dass Menschen ohne ethische Bedenken rationale Nutzen-Kostenrechnungen anstellen.
Doping-Tests vor Prüfungen können deswegen also sehr wohl eine abschreckende Wirkung bei denjenigen haben, die prinzipiell keine moralischen Bedenken gegen Doping hegen: Doping-Tests würden die Entdeckungswahrscheinlichkeit und damit die Eintretenswahrscheinlichkeit von Kosten (Strafen beim Erwischtwerden) erhöhen. Andererseits stelle ich es mir nicht einfach vor, diese Tests tatsächlich einzuführen. Wir müssten vor oder nach einer Klausur mit knapp 500 Studierenden mit allen oder zumindest einer Zufallsstichprobe Doping-Tests durchführen. Diese Lösungen sind sehr aufwendig und teuer und eventuell auch rechtlich problematisch, da es einer ‚Schwarzen Liste‘ mit Medikamenten und Substanzen bedürfte. Und wie bereits gesagt: Einige Menschen brauchen eben diese Medikamente aus medizinischen Gründen.
Abschließend bin ich zudem der Meinung, dass Hirn-Doping im Studium gar nicht nötig ist. Zum einen gibt es Alternativen, wie Konzentrationsübungen oder autogenes Training, zum anderen sind die Prüfungen so angelegt, dass sie mit dem entsprechenden Lernaufwand auch ohne Doping mit sehr guten Noten machbar sind. Schließlich gilt: Wenn mir das Lernen für ein Fach sehr schwerfällt, ich es immer herauszögere oder ich es als langweilig empfinde, dann sollte ich eher in ein Fach wechseln, dessen Inhalte mir Spaß machen, anstatt Medikamente zu nehmen, deren Langzeitfolgen dramatisch sein können.“
Zum Weiterlesen:
Sattler, S., Sauer, C., Mehlkop, G., & Graeff, P. (2013). The rationale for consuming cognitive enhancement drugs in university students and teachers. In: PloS one, 8(7), e68821.
Sattler, S., Mehlkop, G., Graeff, P., & Sauer, C. (2014). Evaluating the drivers of and obstacles to the willingness to use cognitive enhancement drugs: the influence of drug characteristics, social environment, and personal characteristics. In: Substance Abuse Treatment, Prevention, and Policy, 9(1), 8.