Nachgefragt: "Welchen Einfluss haben die Sozialen Medien auf das Wahlverhalten US-amerikanischer Erstwähler, Prof. Dr. Rössler?"

Gastbeiträge

Etwa 15 Millionen US-amerikanische Jugendliche sind seit der jüngsten US-Wahl 2016 18 Jahre alt geworden und dürfen am 3. November zum ersten Mal an der Präsidentschaftswahl teilnehmen. Auf diesen potenziellen Erstwählern liegt in diesem Jahr ein großes Augenmerk: Nicht nur, dass fast die Hälfte von ihnen schwarz ist – ein wichtiger Fakt für den Wahlkampf. Viele von ihnen haben sich angesichts der #metoo-Debatte, der #BlackLivesMatter-Proteste und der Demonstrationen gegen Waffengewalt und Klimapolitik in den vergangenen Jahren auch zunehmend politisiert. Eine bedeutende Rolle spielen nach wie vor die Sozialen Medien, über die sich die Jugendlichen informieren, vernetzen und kommunizieren. Wir haben Prof. Dr. Patrick Rössler, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Erfurt, um eine Einschätzung gebeten und bei ihm nachgefragt: „Welchen Einfluss haben die Sozialen Medien auf das Wahlverhalten US-amerikanischer Erstwähler*innen?“

„Die Abhängigkeit junger US-Amerikanerinnen und -Amerikaner von Sozialen Medien – quer durch alle Bildungsschichten, Einkommensgruppen, Ethnien und Geschlechter – schlägt sich in vielerlei Phänomenen nieder: im freundschaftlichen Miteinander, in der Organisation des Alltags, des familiären Zusammenlebens und eben allgemein in ihren ‚Weltbeziehungen‘. Deshalb verwundert es nicht, dass in dieser Altersgruppe auch fast alles, was Politik betrifft, über die entsprechenden Kanäle verhandelt wird. Bei genauerer Betrachtung wäre es aber genauso irreführend, von ‚den‘ sozialen Medien zu sprechen, wie fatal, alle Erstwähler in 'einen Topf' zu werfen.

Einige Differenzierungen: Natürlich ist Twitter mit seiner Flut von präsidialen Kurzmitteilungen etwas anderes als Facebook, das nun dazu übergeht, wenigstens die absurdesten Verschwörungsmythen zu verbannen. Und wieder anders sind die WhatsApp 'durchseuchenden' Polit-Memes, die Videosplitter auf Tik-Tok (die immerhin schon mal eine Wahlkampfveranstaltung Trumps ins Wanken brachten) oder die Text- und Bildbeiträge der selbsterklärten Influencerinnen und Influencer auf Instagram und YouTube. Soziale Medien bedeutet heute all dies, und meint in dieser Altersgruppe eine umfassende Durchdringung des Alltags – zumal durch die mobilen Varianten per Smartphone – weiter Teile von Erstwählerinnen und Erstwählern. Vor diesem Hintergrund, und das ist vielleicht die erste zentrale Feststellung, erscheint es nur logisch, dass auch deren Verhalten bei den kommenden Wahlen maßgeblich von sozialen Medien beeinflusst sein muss: Wenn das gesamte Leben darüber organisiert ist, wäre es doch höchst verwunderlich, würde ausgerechnet die politische Willensbildung davon ausgespart?

Im Umkehrschluss (und dies ist eine zweite wichtige Grundlage, auch wenn es zunächst trivial erscheint) darf es genauso wenig verwundern, dass sich Merkmale des politischen Offline-Diskurses in die Online-Welt der sozialen Medien verlängern. Die von Kolumnisten hinreichend beschworene Spaltung der amerikanischen Zivilgesellschaft lässt sich dort 1:1 wiederfinden – denn die Akteurinnen und Akteure sind ja dieselben. Und so kehrt auch die unversöhnliche, oft auf einzelne Schlagworte (‚china virus‘) verdichtete Kampfrhetorik im Netz wieder, im Schutz der Anonymität zuweilen sogar in potenzierter Schärfe. Die Frage müsste also eher lauten, ob es für soziale Medien spezifische Einflüsse gibt, die deswegen die Social-Media-affinen Erstwähler möglicherweise stärker treffen als den Rest der Bevölkerung.

Eine Besonderheit ist hier sicher dem amerikanischen Wahlsystem geschuldet, das eine vorherige Registrierung der Wählerinnen und Wähler verlangt. Diese oft kritisierte Hürde für die Beteiligung am Prozess der gesellschaftlichen Willensbildung verlangt von jungen Menschen, die das erste Mal zur Wahl aufgerufen sind, eine neue, gesteigerte Aktivität. Das offensichtliche Mobilisierungspotenzial gerade der sozialen Medien mag dazu beitragen, diese Schwelle zu verringern und die grosso modo an vielem, aber nicht gesteigert an Politik interessierte amerikanische Jugend zum Urnengang zu bewegen. Das ‚GoVoteProject‘ beispielsweise will die Wahlbeteiligung steigern, indem man die Entbehrungen betont, die frühere Generationen erleiden mussten, um sich das Wahlrecht zu erkämpfen: Ein direkter Link auf der Website führt denn auch zu den offiziellen Registrierungslisten, um den Onlinern das Handeln in der Wirklichkeit so einfach wie möglich zu machen.

Prof. Dr. Patrick Rössler
Prof. Dr. Patrick Rössler

Aber wie in vielen Teilen der westlichen Welt, so berichten meine Kolleginnen und Kollegen aus den USA, scheint auch dort in den vergangenen zwölf Monaten eine schrittweise Politisierung der jungen Menschen im Gange zu sein. Was zunächst als #metoo-Debatte primär junge Frauen, durch die ‚Fridays for Future‘-Bewegung dann viele Wohlstandskinder und schließlich unter dem Schlagwort ‚Black Lives Matter‘ viele Bürger unabhängig von ihrer Hautfarbe und ihrem Status auf die Straßen brachte, könnte nun auf die Wahlkampagnen überschwappen. Und gerade für unkonventionelle Beteiligungsformen wie FlashMobs oder digitale Petitionen spielen die Sozialen Medien eine wichtige Rolle.

Im Gegensatz zu anderen Demokratien besitzt das politische System der USA allerdings einen großen Nachteil gerade für junge Wähler: Der weitgehend statischen Zwei-Parteien-Konstellation aus Demokraten und Republikanern fehlen starke Alternativen wie beispielsweise Bündnis 90/Die Grünen in Deutschland, die wegen ihrer thematischen Ausrichtung und der prinzipiell basisdemokratischen Organisation sehr gut in der Lage sind, Erstwählerschichten zu binden. Auch treten Jugendorganisationen der Parteien (wie hierzulande etwa die Junge Union oder die Jusos) kaum in Erscheinung, die auch mal Politiker – oder gar eine Politikerin?! – unter 30 aufstellen würden, mit denen die Identifikation leichter fällt als mit dem etablierten Personal: Die beiden aktuellen Präsidentschaftskandidaten sind nicht nur männlich und weiß, sondern 74 bzw. 77 Jahre alt. Vorbilder lassen sich da unter den eloquenten Influencerinnen und Influencern im Netz deutlich leichter finden.

Was bleibt also unter dem Strich? Einerseits die Erkenntnis, dass Social Media niederschwellige Einstiegsangebote für politische Kommunikation bereitstellen und damit vielleicht in der Lage sind, auch weniger politikaffine Erstwähler für entsprechende Themen zu interessieren. Andererseits lassen sich natürlich die Abgründe von Hate Speech, gezielter Desinformation (‚fake news‘) und Verschwörungsmythen nicht leugnen, deren desaströse Konsequenzen für einen ideale Sprechsituation im Sinne des Habermas’schen Diskursbegriffs wir erst zu begreifen beginnen. In dieser Ambivalenz unterscheiden sich politische Inhalte auf sozialen Medien allerdings wenig von anderen Domänen der Netzwelt. Die vor einiger Zeit populäre – aber empirisch übrigens kaum bestätigte – ‚Filterblasen‘-Theorie Eli Parisers, die die von Algorithmen gesteuerten Suchmaschinen dafür verantwortlich machte, dass sich Online-Nutzer nur noch in ihren eigenen Echokammern bewegen würden, wird allerdings durch Social Media neu gewendet: Facebook & Co. erleichtern bekanntlich die Vernetzung mit Gleichgesinnten jeglicher Haltung und Couleur und damit die Mobilisierung in die ein oder andere Richtung; zuweilen in kürzester Zeit, kaum vorhersehbar und mit breitester öffentlicher Resonanz (‚Shitstorm‘). Und in dieser Dynamisierung scheint mir der Kern jenes spezifischen Einflusses zu liegen, der diese Kanäle zu einer bedeutsamen und vielfach unberechenbaren Größe für die amerikanischen Erstwählerinnen und Erstwähler macht.“

Inhaber der Professur für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Empirische Kommunikationsforschung / Methoden
(Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft)
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