Jeder hat das Recht, selbstbestimmt zu sterben – wenn nötig auch mit Hilfe Dritter. Das entschied das Bundesverfassungsgericht kürzlich mit seinem Urteil zu §217. Der Paragraph stellte die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ bisher unter Strafe. Nach dem neuesten Urteil machen sich nun Ärzte, die einen Patienten bei der Selbsttötung z.B. durch das Verabreichen von Medikamenten unterstützen, nicht länger strafbar – vorausgesetzt die Mediziner handeln im Einzelfall. Die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, betreffe wie keine andere „Identität und Individualität des Menschen“, begründet der Bundesgerichtshof. Was sagt diese Einschätzung über das individualistische Freiheitsverständnis unserer Verfassung? Und welche Maßnahmen muss nun der Gesetzgeber treffen, um sterbende Menschen in den Momenten größter Verletzlichkeit zu schützen? „WortMelder“ hat bei Prof. Dr. Josef Römelt, Moraltheologe an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt, nachgefragt…
„Es ist zu einer eigenen Herausforderung geworden, dass die moderne Gesellschaft die Prozesse des Sterbens in einer Weise beeinflussen kann, wie es Menschen zuvor nicht möglich war. Der Segen moderner Medizin hat den Tod ‚verlangsamt‘: Angesichts der Eingriffsmöglichkeiten durch Operationen und Medikamente gibt es immer wieder Optionen, das Sterben hinauszuzögern und die Lebenszeit zu verlängern. Dadurch bedarf es aber auch einer viel tieferen Auseinandersetzung mit den Phasen des eingeschränkten und verlöschenden Lebens. Über viel längere Zeiträume hinweg müssen Menschen ihr Leben mit Behinderungen und Belastungen gestalten.
Nur in diesem Sinne ergibt das Wort vom selbstbestimmten Sterben überhaupt einen Sinn. Dass wir sterben müssen, hat mit freiheitlichen Optionen nichts zu tun. Es sind Grundlagen und Vorgaben unserer Existenz, an denen niemand rütteln kann. An denen selbst Gott, wie die Bibel an manchen Stellen sagt, ‚keine Freude hat‘ (Weish 1,13). Wie die letzten Wege im Sterben aussehen, das lässt sich gestalten. Aber es hat nichts mit der Gestaltungsfreiheit zu tun, die wir in anderen Lebensbereichen wie der Partnerbeziehung, der Berufswahl usw. erfahren. Es ist der Versuch, Menschlichkeit auch in den bedrängten Tagen des Lebens zu wahren.
Das Bundesverfassungsgericht spricht davon, dass ausgerechnet die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, ‚wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität des Menschen betreffe‘. Entspricht das wirklich der Realität? Wird damit die Selbsttötung geradezu zum tiefsten und letzten Ausdruck unserer Persönlichkeit? In Konsequenz einer solchen Sicht betont das Gericht, dass es ein ‚Recht auf selbstbestimmtes Sterben‘ ‚in jeder Phase menschlicher Existenz‘ gebe. Und sorgfältig wird dieses ‚Recht‘ auch außerhalb von ‚fremddefinierte(n) Situationen wie schwere(n) oder unheilbare(n) Krankheitszustände(n) oder bestimmte(n) Lebens- und Krankheitsphasen‘ skizziert und in seiner Schutzwürdigkeit herausgestellt. Es wird betont, dass die ‚Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen‘ offenbar eine ‚Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive‘ darstelle, ‚eine inhaltliche Vorbestimmung …, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist‘. Was ist mit einer solchen Philosophie des selbstbestimmten Sterbens gemeint? Ist sie wirklich hilfreich, um das Sterben heute menschlich sein zu lassen? Vor Paradoxien und Gefahren zu schützen?
Es ist wohl dringend notwendig, zu beachten, was das Gericht bei der Urteilsverkündung betont: Es geht nur um die Überprüfung einer ganz bestimmten Norm des Strafrechts. Aber ist selbst dafür das Urteil wirklich hilfreich?
Unsinnig wird es, wollte man die Gedanken des Gerichts als Interpretation der Freiheitsordnung des Grundgesetzes prinzipiell verstehen. Wie mögen Ärzte den Satz von der Unmöglichkeit der Bewertung der Beweggründe eines zur Selbsttötung Entschlossenen empfinden, die Suizidenten einen Weg zurück ins Leben zu bahnen und sie an der Selbsttötung zu hindern versuchen – wenn nötig zu ihrem Schutz mit Einweisung in eine geschlossene Psychiatrie? Wird ein solches Handeln auf dem Hintergrund höchstrichterlicher Grundsatzüberlegungen geradezu zu einer Straftat? Oder: Müssen die therapeutischen Teams Patient*innen, die um Hilfe bei der Selbsttötung bitten, unverzüglich Folge leisten, weil sie diesen Wunsch ’nicht bewerten‘ dürfen? Sind die Sorgfaltspflichten für Ärzt*innen, die es selbst im ‚europäischen Mutterland der aktiven Sterbehilfe‘ – in den Niederlanden – gibt (Dokumentation der Ausweglosigkeit der gesundheitlichen Situation des Patienten, der Stabilität des Sterbewunsches …) ein Übergriff und Verrat an der Freiheit und Würde des Menschen? Ein Eingriff in sein selbstbestimmtes Sterben?
Das Urteil des Verfassungsgerichts wirkt in seinen geradezu philosophischen Begründungen abstrakt und weltfremd. Die Richter hätten sich auf ihr Metier beschränken sollen. Auf die Überlegungen zu den Grundrechtskonflikten zwischen Freiheit und Schutz der körperlichen Integrität, zwischen Selbstentfaltung und Wahrung der ermöglichenden Bedingungen gelingenden Freiheitsvollzugs. Dann wäre etwas zu spüren gewesen von der sensiblen Balance, um die es in den extremen Situationen, in die Sterbende geraten können, geht. Und die noch Immanuel Kant, der nun wirklich nicht im Verdacht steht, die Freiheit des Menschen in Fremdbestimmtheit untergehen zu lassen, im Blick hatte, wenn er beklagt, dass bei der Selbsttötung das Subjekt der Freiheit die Bedingungen der eigenen Freiheitsentfaltung zerstört – ein Argument, das das Gericht in einem Satz lakonisch beiseiteschiebt.
Es wirkt wie ein Zugeständnis, dass das Urteil dem Gesetzgeber einräumt, die Sterbehilfe gesetzlich zu regeln. Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit. Sie wird aber auf dem Hintergrund von Vorstellungen, die das Verständnis von Freiheit immer individualistischer zuspitzen und von den natürlichen, sozialen und religiösen Voraussetzungen ihres Gelingens immer mehr isoliert – Vorstellungen, die jetzt offenbar auch das Verfassungsgericht erreicht haben –, offensichtlich immer dringlicher. Denn die Risiken, dass die Sterbehilfe zum Feld von geschäftsmäßigem Profit, von Erlösungsfantasien und fremd bestimmender Kalküle aus der Umwelt der Patient*innen wird, sind real. Die Sorge davor stammt nicht nur aus pessimistischen Ängsten. Denn der Mensch ist im Sterben gerade aufgrund seiner Verletzlichkeit ganz sicher auf Schutz und Fürsorge angewiesen. Man kann nur hoffen, dass der parlamentarische Gesetzgeber, der gerade um das Zueinander zwischen Freiheitsentfaltung und angemessener Fürsorge für den Patienten gerungen hat, die einseitigen Vorgaben des Verfassungsgerichts noch einmal in einen klugen Ausgleich bringt. Damit nicht eine viel dramatischere Rechtsunsicherheit entsteht, als sie der Weisheit des Sterbenlassens auf dem Hintergrund von den Gesetzen zur Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung im geltenden Recht in Deutschland zu Unrecht nachgesagt wird. Es ist sicher richtig, dass das Zueinander zwischen Freiheit und Ohnmacht, Fürsorge und Selbstbestimmtheit, Autonomie und Angewiesenheit auf Hilfe im Sterben in sensibelster Weise bestimmt werden muss. Den gordischen Knoten aber in ‚deutscher Gründlichkeit‘ einfach mit einer Ideologie individualistischer Selbstbestimmung durchschlagen zu wollen, hat mit Menschlichkeit nichts zu tun. Die christliche Weltanschauung bietet demgegenüber eine Sorge für den Menschen im Sterben an, die ihn mit dem Respekt seiner Selbstbestimmung, der Einbettung in die tiefe Kreativität zur Erleichterung der Lasten und der Zusicherung der Unantastbarkeit seines Lebens Sicherheit und Geborgenheit schenkt.“
Dieser Beitrag erschient zuerst auf „Theologie Aktuell“, dem Blog der Katholisch-Theologischen Fakultät.
Hinweis: Die Beiträge in unserer Rubrik „Nachgefragt“ geben die wissenschaftliche Meinung der Autoren wieder, sie sind nicht als Statement der gesamten Universität Erfurt zu betrachten.