In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Theologie der Gegenwart“ beschäftigt sich Elke Mack, Professorin für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Erfurt, mit der Frage, ob Europa eine moralische Identität besitzt, die es integriert“. Angesichts aktueller Anfeindungen an die Europäische Union und an das westliche politische System untersucht ihr Essay, welche Ursachen die weltanschaulichen
Vorbehalte und politischen Radikalisierungen in Teilen westlicher Gesellschaften haben. Gleichzeitig analysiert der Beitrag die Gegenbewegung, die trotz Kultur- und Sprachverschiedenheit eine gemeinsame westliche Geistesgeschichte, rechtsbasierte Interaktionskultur und rationale Verständigung zu haben scheint. „WortMelder“ hat nachgefragt: „Ist die europäische Idee eine Utopie, Frau Prof. Mack?“
„Nach einer langen friedlichen Phase eines transnationalen Zusammenschlusses in Europa ist die europäische Idee als Grundlage der Europäischen Union wirklich in die Krise geraten. Dies ist nicht nur so, weil eine große Kulturnation in Kürze ausscheiden wird, sondern weil die Europäische Union von vielen Unionsbürgern und -bürgerinnen wirklich existenziell in ihrer Legitimation und in ihrer Nützlichkeit angefragt wird. Das liegt daran, dass die europäische Idee nicht für jeden und jede in Europa selbstverständlich ist und das transnationale Projekt der Europäischen Union nicht wirklich durch eine einheitliche europäische Zivilgesellschaft, ein gemeinschaftliches europäisches Bewusstsein oder gar eine flächendeckende europäische Identität getragen und gestützt wird.
Bislang ist Europa ein Elitenprojekt und ein Projekt derer, die die transnationalen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge erkennen und schätzen. Sie reichen vom Beginn der griechischen Antike mit ihrer heute noch aktuellen Philosophie und Ethik, über die Errungenschaften des Römischen Rechtes und der Römischen Zivilisation, über die religiöse Humanitätsidee, die das Christentum mehr als 2000 Jahre lang bot. Vor allem hat die europäische Aufklärung, in deren Folge Menschenrechte, demokratische Rechtsstaaten und die Idee der Person als Rechtssubjekt nach vielen Rückschlägen ihren Siegeszug errungen. Die Ideen Europas sind klar, aber ihre individuelle Rezeption in der Form einer selbstbewussten und positiven Identität ihrer Bürgerinnen und Bürger ist noch offen.
Hoffnungsvoll stimmt, dass die europäische Idee zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum ersten Mal in der Geschichte Europas von vielen gelebt wird, nämlich durch eine in der Kulturgeschichte Europas einzigartige junge, weltoffene Generation gebildeter Europäer und Europäerinnen, die moderne Generation der Zwei- und Mehrsprachigen, der Globetrotter, der Erasmus- und Sokratesstudierenden, der selbstverständlichen Kosmopoliten; eine Generation von Europäerinnen und Europäern, die globale Themen wie Nachhaltigkeit, Klimawandel, Humanität und die Bekämpfung von Armut und Not zu einem Teil ihrer Lebensphilosophie gemacht hat. Die Mehrheit dieser gebildeten und mobilen westlichen Generation scheint das europäische Projekt einer zivilen Moral der Toleranz und globalen Verantwortung – trotz aller kulturellen Pluralität ihrer selbst – verinnerlicht zu haben. Denn diese neue europäische Generation findet ihre soziale Identität nicht mehr allein über die Integration in eine nationale Kultur und Sprache, oder über die Identifikation mit einer homogenen Volksgruppe, einer Glaubensgemeinschaft oder gar nur der eigenen Familie, sondern hat kosmopolitische, normative Visionen und humane Lebensphilosophien über die eigenen Grenzen hinaus. Diese universalen Werte, Güter und Prinzipien sind der Querschnitt einer zivilen Moral, die die Mehrheit der Europäer – trotz populistischer Rückwärtsbewegungen – mittlerweile teilt.
Allerdings stehen Europa und die westliche Welt trotz dieser weltanschaulichen Gemeinsamkeiten an einem historischen Scheidepunkt, da diese zivile Moral der kosmopolitischen Offenheit, Humanität, Toleranz und Solidarität eben noch nicht der unbestrittene Konsens unter allen Europäerinnen und Europäern ist. Aber es gibt eine westlich-europäische Verwandtschaft der Einheit in Vielheit, die nationale Differenzen verblassen lässt. Es ist das, was Europäer erfahren, wenn sie längere Zeit außerhalb des Kontinentes leben: eine ähnliche und verwandte Interaktions-, Verhaltens- und Reflexionskultur trotz unterschiedlicher Muttersprachen; das analoge Herangehen an Probleme, nämlich sachorientierte Auseinandersetzungen untereinander; die eigene Toleranz für Heterogenität und Pluralismus; eine gemeinsame Einigung auf Rationalität als Basis humaner Interaktion; Menschenrechte als unveräußerliches und nicht hintergehbares ethisches Erbe, das nicht mehr unterboten werden kann; die Achtung der Geschichte und Religion der jeweils anderen… Das alles ist ein bitter erworbenes und historisch vererbtes Bewusstsein für notwendige Toleranz und gewaltfreie Akzeptanz des jeweiligen personalen Gegenübers, dem Würde zugeschrieben wird.
Wenn wir uns fragen, ob dieses Bewusstsein für Humanität die Grundlage einer europäischen Identität ist, so kann wissenschaftlich nur festgestellt werden, dass wir uns in einem Prozess des Erwerbens dieser Identität befinden, der unabgeschlossen ist. Eine europäische Identität bleibt deshalb eine Vision, die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in verschiedenen europäischen Gesellschaften sich entwickeln wird. Sie wird noch mehrere Generationen brauchen, auch wenn sie jetzt schon bei manchen vorhanden ist. Insofern ist sie gerade keine Utopie. Ethik und kulturelle Fortentwicklung braucht Zeit. Wenn wir allerdings schauen, wie viel an Ethik und Kulturstandards in Europa in den vergangenen 2500 Jahren bereits erworben wurden, so lässt mich das für die nächsten 100 Jahre hoffen, dass eine gemeinsame europäische Identität Realität wird.“