Am 1. Mai gehen wieder Tausende Menschen in Deutschland auf die Straße, um für mehr Gerechtigkeit und verbesserte Arbeitsbedingungen zu demonstrieren. Als „Tag der Arbeit“ führt der nationale Feiertag damit das Erbe der Arbeiterbewegung fort, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielerorts gegen die Unterdrückung und Ausbeutung der durch die Industrialisierung neu entstandenen Arbeiterklasse kämpfte. Für das sozialistisch-kommunistische Lager innerhalb der Arbeiterbewegung lieferte einst Karl Marx den theoretischen Hintergrund und auch heute wird der Gesellschaftstheoretiker wieder gern zitiert. Doch wie aktuell ist Karl Marx eigentlich wirklich? „WortMelder“ hat PD Dr. Christoph Henning, Junior Fellow für Philosophie am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt, gefragt: „Was hat der Mensch heute noch mit den zeitgenössischen Arbeitern Karl Marx‘ gemeinsam und was können wir für unsere von Arbeit geprägte, kapitalistische Gesellschaft noch heute von Marx lernen, Dr. Henning?“
„Die Schriften von Marx haben uns auf vielfache Weise noch etwas zu sagen. Man kann also eine ganze Reihe von Antworten geben. Ich würde zunächst Krisendiagnose und Therapievorschlag unterscheiden. Folgt man der Marx’schen Theorie, dann sind die Zerrüttungen der Gegenwart vor allem auf ökonomische Mechanismen zurückzuführen: auf die kapitalistische Produktionsweise, in der sich alles um die Erwirtschaftung von Profit auf vorgeschossenes Kapital beruht. Diesem Prozess wohnt eine in Teilen destruktive Steigerungslogik inne. Wenn die Aussichten auf Profit unsicher werden, wie in den vergangenen Jahrzehnten der Fall, dann geht das Kapital auf der Suche nach profitablen Anlagemöglichkeiten auf ‚Raubtour‘ – öffentliche Güter, Naturgüter, intellektuelles Eigentum oder bislang kollektiv bewirtschaftete Regionen werden in kapitalistische Nutzungsformen eingemeindet – teilweise mit Gewalt. Das nennt man beschönigend Privatisierung, Globalisierung oder Finanzialisierung, weniger beschönigend etwa ‚Landnahme‘.
Profit wird nach Marx zum einen durch Ausbeutung der Arbeit erzielt, zum anderen aber auch durch die teils fragwürdige Aneignung scheinbar ‚herrenloser‘ Güter (Akkumulation durch Enteignung). Und wie zu Zeiten von Marx sind die meisten Menschen noch heute darauf angewiesen, einen ‚Käufer‘ für ihre Arbeitskraft zu finden, und sich selbst für diesen Zweck möglichst ‚marktgängig‘ zuzurichten – auf die Gefahr hin von Verarmung und Ausgrenzung. In der Gegenwart sind deshalb nicht nur Prozesse wie die steigende soziale Ungleichheit oder die Ausbreitung des krisenanfälligen finanzialisierten Kapitalismus gut mit Marx zu erklären, sondern auch die zunehmenden Phänomene einer ‚Erschöpfung‘ oder eines Burnout, was ich mit Marx als ‚Entfremdung‘ bezeichnen würde.
Was die möglichen Antworten auf diese schwelenden Krisenherde angeht, so kann man von Marx lernen, dass ‚nationale‘ Antworten darauf in eine Sackgasse führen. Natürlich kann man versuchen, sich von diesen Gefahren abzuschließen und Mauern zu bauen (in den Köpfen oder an den vermeintlichen Grenzen). Aber da Kapital, Waren und Geld (und in vielen Fällen auch die Arbeit) auf globaler Ebene mobil sind, verschlimmert man die Probleme auf diese Weise möglicherweise noch – und säht zusätzlich Xenophobie und Ausgrenzung. Es geht also auch heute noch darum, die destruktiven Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise entweder in sozial- und umweltverträglichere Umgangsweisen zu transformieren oder, wo dies nicht gelingt, sie wenigstens einzudämmen, ohne dabei jedoch in repressive und exklusive Muster einer Zentralverwaltungswirtschaft zurückzufallen. Dies in internationaler Zusammenarbeit anzustreben ist eine Herausforderung, die seit den Marxschen Zeiten eher noch größer geworden ist. Da sich nächstes Jahr der 200. Geburtstag von Marx jährt, rechne ich daher schon mit einem kleinen Revival. Wir werden jedenfalls auch in Erfurt Veranstaltungen dazu durchführen.“