Der offenbar rassistisch motivierte Übergriff auf einen syrischen Jugendlichen in der vergangenen Woche in der Erfurter Straßenbahn hat bei vielen Menschen für Entsetzen gesorgt. Auch in den Sozialen Medien schlagen die Wellen hoch. Kritisiert wird dabei aber nicht nur der Übergriff als solcher, sondern auch die Tatsache, dass niemand der anderen Fahrgäste dem Opfer zur Seite gesprungen ist. Wie in vielen anderen Fällen zuvor wurde der Vorfall aber mit dem Handy gefilmt. Anhand des Videos konnte der Täter schließlich identifiziert werden. „WortMelder“ hat bei Kai Hafez, Professor für Vergleichende Analyse von Mediensystemen/Kommunikationskulturen an der Universität Erfurt, nachgefragt: „Handfeste Beweise oder doch nur Sensationslust – welche Rolle spielen die sozialen Medien heute bei solchen Übergriffen? Und warum ist der Graben zwischen Empörung und eigener Zivilcourage noch immer so tief?“
"Es ist mir nicht möglich, ein grundsätzliches Urteil über Menschen abzugeben, die sich in einer Situation offensichtlich nicht zugetraut haben, einem Opfer eines brutalen Gewaltübergriffes zur Seite zu stehen. Grundsätzlich muss gelten, dass das schnelle und konsequente Handeln möglichst vieler Beteiligter in den meisten Situationen Brutalität und rassistische Übergriffe wie in Erfurt vor einigen Tagen verhindern kann. So sehr ich mir also wünschen würde, dass jeder Mensch die Courage fände, in solchen Situationen mit Zivilcourage zu handeln, muss ich doch erkennen, dass dies oft nicht der Fall ist, wahrscheinlich weniger, weil Menschen gleichgültig sind, sondern weil sie selbst Angst haben und sich schützen wollen. Das Filmen rassistischer und anderer Gewalthandlungen ist in solchen Fällen aus meiner Sicht eine wichtige Behelfsstrategie, weil sie das Geschehene dokumentiert und gerade bei Alltagsrassismus oft ohne solche Dokumentationen eine Strafverfolgung ausbleibt. Die Gemeinschaft handelt hier also zumindest ansatzweise als Solidargemeinschaft, und auch im vorliegenden Fall war das Video nach meiner Kenntnis wichtig, um den Täter schnell zu ergreifen. Medienethisch gilt zwar grundsätzlich nicht nur für das Opfer, sondern auch für den Täter ein Privatsphärenschutz. Da jedoch ein ganz klarer Fall einer gesetzbrecherischen Gewalthandlung vorliegt, überwiegt hier aus meiner Sicht ganz eindeutig das öffentliche Interesse an der Tat und an der Ergreifung des Täters. Der mögliche Einwand, es sei Sache des Staates und nicht eines einzelnen Bürgers/einer Bürgerin, Straftäter zu verfolgen, ist nicht stichhaltig, da dies zwangsläufig zu einer inflationären Handhabung überwachungstaatlicher Methoden führen kann. Ethisches Handeln ist kein Privileg von Institutionen, sondern die gemeinsame Aufgabe einer Gesellschaft. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wir sollten soziales Medienhandeln nicht mit sozialem Handeln gleichsetzen, denn Zivilcourage drückt sich zuerst in praktischem Handeln und konkreter Hilfe aus. Dennoch sind auch kommunikative Hilfestellungen und digitale Zeugenschaft dort wichtig und bedeutsam, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird."