Am 16. April ist "Voice Day" - eine kleine Hommage an unsere Stimme. Sie kann laut, leise, zart, tief, sonor, sexy, beruhigend - nun ja, sehr vieles sein. Eines ist sie ganz gewiss: das wichtigste Instrument der sogenannten "Sprechberufe". Zu diesen zählen beispielsweise Lehrer*innen, Jurist*innen oder Theolog*innen. Diese Berufe erfordern eine andauernde und intensive, tägliche Stimm- und Sprechleistung, weswegen eine stimmlich-sprecherische Ausbildung elementar und im Bereich der Lehrerbildung sogar gesetzlich festgeschrieben ist. Am Sprachenzentrum der Universität Erfurt ist diese Ausbildung durch den Fachbereich Sprecherziehung abgesichert und ist fest im Lehrplan angehender Lehrer*innen verankert. Mit einer neuen Datenerhebung zur stimmlichen Selbstreflexion der Studierenden in den lehramtsrelevanten Studiengängen will der Fachbereich seine Arbeit nun auf eine noch breitere wissenschaftliche Basis stellen und vor allem Hilfestellung für die Studierenden geben.
Dass die Stimme z.B. für angehende Lehrerinnen und Lehrer eine enorme Wichtigkeit hat, ist vielen von ihnen vor der Belegung ihrer Sprecherziehungskurse gar nicht bewusst.
Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich meine Stimme sowie meine Kommunikation nicht reflektiert und bewusst wahrgenommen.“ (Student 3. Fachsemester)
"Ein gesundes 'Instrument Stimme' ist für viele selbstverständlich; eine optimale stimmliche Leistungsfähigkeit wird nicht angezweifelt", sagt Sophie Hohlbein vom Fachbereich Sprecherziehung der Universität Erfurt. Dennoch zeigten sich die Studierenden in den ersten sprecherzieherischen Leistungen sehr verunsichert, sprechen eher leise und haben Hemmungen, frei vor einer fremden Gruppe zu reden. Der geschaffene Bezug zur Stimme rege erst später zum Nachdenken an.
Ich war der Meinung, viel zu schnell gesprochen zu haben und dass meine belegte Stimme und mein Dialekt recht unangenehm zum Zuhören sind.“ (Studentin 3. Fachsemester)
Durch diese erste Reflexion wird die eigene Stimme und deren Leistungsfähigkeit genauer betrachtet - ihre Physiologie von manchen Studierenden sogar infrage gestellt: „Ist meine Stimme gesund? Bin ich wirklich für den Lehrberuf geeignet? Hört man mich gut oder bin ich zu leise? Ist meine Stimme krank? Gehört meine Stimme eher zur Kategorie Steckenpferd oder Sorgenkind?“ Zweifel seien hierbei nicht unbegründet, sagt Hohlbein. "Laut aktueller Studien zeigen rund 40 Prozent der angehenden Lehramtsstudierenden stimmliche Auffälligkeiten bzw. sogar gestörte Stimmen, die dringend ärztlich und therapeutisch betreut werden müssten, um künftig einen Sprechberuf ausüben zu können. Innerhalb der Sprecherziehung werden die Studierenden an der Universität Erfurt deshalb hinsichtlich dieser stimmlichen Auffälligkeiten beraten und betreut, um ggf. Therapien oder andere Maßnahmen abzuleiten."
Die Stimmberatung hat mich ermutigt, mich aufgrund meiner stimmlichen Probleme in logopädische Behandlung zu begeben, was ich ohne eine fachliche Einschätzung wahrscheinlich nicht oder erst wesentlich später getan hätte.“ (Studentin 3. Fachsemester)
Um die Studierenden möglichst früh hinsichtlich ihrer Stimme zu sensibilisieren, ist eine zeitige Selbstreflexion hilfreich. Der Fachbereich Sprecherziehung an der Uni Erfurt hat dafür einen an stimmdiagnostische Standards angelehnten Selbstreflexionsbogen entwickelt – den "VHI-12-Students". Denn innerhalb der phoniatrischen Diagnostik hat die Selbsteinschätzung einen hohen Stellenwert, da durch sie physische, psychische und soziale Auswirkungen einer gestörten Stimme erfasst werden können. Der VHI-12-Students erfasst soziodemografische Daten, erfragt eine aktuelle Stimmeinschätzung auf einer vierstufigen Skala und erfordert Angaben hinsichtlich stimmlicher Vorerfahrungen und Gesprächigkeit.
Hauptbestandteil des Bogens sind zwölf Items zu individuellen negativen Stimmerfahrungen und deren Häufigkeit im universitären Alltag. Diese Items müssen anhand einer fünfstufigen Skala mit den Abstufungen nie (0), selten (1), manchmal (2), oft (3) und immer (4) bewertet werden. Die Gesamtzahl kann dabei zwischen 0 und 48 liegen, wobei ein höherer Wert ein höheres Maß an selbst wahrgenommener Einschränkung zeigt. Die Items werden anschließend den vier Faktoren negative Stimmerfahrungen, Selbstunsicherheit, mangelnde stimmliche Tragfähigkeit und negative Emotionalität zugeordnet.
Sophie Hohlbein berichtet: "Zu Beginn des Wintersemesters 2020/21 haben wir 176 Studierende im 3. bis 6. Fachsemester lehramtsrelevanter Studiengänge anhand dieses Bogens befragt. Innerhalb der Sprecherziehungskurse sollten die Studierenden so erstmalig eine stimmliche Selbsteinschätzung vornehmen. Die Daten wurden anschließend digitalisiert, anonymisiert und die einzelnen Fragen und Faktoren ausgewertet."
Anhand der Datenerhebung sollte geprüft werden:
Tatsächlich gaben rund 30 Prozent der befragten Studierenden stimmliche Einschränkungen im universitären Alltag an, davon 26 Prozent geringfügige Einschränkungen, 3 Prozent mittelgradige Einschränkungen und 1 Prozent hochgradige Einschränkungen. Der prozentuale Anteil liegt also knapp unter der aktuellen Studienlange im Untersuchungsbereich „Lehrerstimme“.
Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse, dass rund fünf Prozent der Studierenden oft bis immer Angst haben, aufgrund der Stimme ihren angestrebten Beruf nicht ausüben zu können. "Das lässt eine enorme psychische Belastung vermuten und macht die Stimme schnell zum 'Sorgenkind' dieser Studierenden. Sie fühlen sich im Stimmgebrauch unsicher und melden uns zurück, sie müssten sich erst räuspern, um sich zu vergewissern, dass die Stimme 'da ist'. Das Vertrauen gegenüber der eigenen stimmlichen Leistungsfähigkeit scheint also durch negative Erfahrungen gestört zu sein", konstatiert Sophie Hohlbein.
Im Rahmen der Studie hatte nur rund ein Drittel der Studierenden stimmliche Vorerfahrungen angegeben, z.B. durch Tätigkeiten in sogenannten „Sprechberufen“ wie Verkäufer*in, Nachhilfelehrer*in, Kellner*in usw. Dabei sei nach Angaben des Fachgebiets anzunehmen, dass die stimmliche Leistungsfähigkeit bewusst oder unterbewusst reflektiert und die Stimme im stetigen Gebrauch wahrgenommen werde. 64 Prozent der Studierenden verfügten dagegen bis zum Befragungszeitpunkt nach eigenen Angaben über keine stimmlichen Vorerfahrungen; eine stimmliche Reflexion erfolgte also vermutlich bisher kaum bis gar nicht.
Hohlbein: "Interessant ist auch die Gegenüberstellung von errechnetem Einschränkungsgrad und aktueller Stimmeinschätzung. Die Ergebnisse zeigen, dass 18 Prozent der Studierenden ihre Stimmen als leicht oder mittelgradig gestört empfinden, ohne dass sich eine errechnete stimmliche Einschränkung zeigt. Hier zeigt sich also eine Differenz zwischen Klassifizierung und tatsächlichem Empfinden. Ähnlich verhält es sich bei Studierenden mit errechneter Einschränkung, wobei 48 Prozent ihre Stimmen als 'normal' einschätzen. In der Auswertung des "VHI-12-Students" ergeben sich so Unterschiede zwischen Klassifizierung und tatsächlicher Empfindung. Das lässt uns vermuten, dass die Selbstreflexion der Studierenden Lücken aufweist, was wiederum mit dem hohen Anteil stimmlich unerfahrener Studierender begründet werden kann. Ziel unsere Sprecherziehungskurse ist es deshalb, die Selbstreflexion auszubauen, um die eigene Stimme besser bewerten zu können."
Wie also lautet das Fazit des Fachbereichs zu seiner aktuellen Erhebung? Der VHI-12-Students kann eine Klassifikation hinsichtlich der Einschränkungsgrade stimmlicher Leistungsfähigkeiten liefern. Anhand dieser Klassifizierung könnte künftig bei stimmlichen Einschränkungen die Empfehlung einer Stimmberatung ausgesprochen werden. Zum anderen werden durch ihn die Faktoren „Stimmerfahrung“ und „Gesprächigkeit“ abgefragt, so dass die Stimme in ihrer Alltagsposition reflektiert wird. Auch können anhand der Beantwortung der Items physische, psychische und soziale Auswirkungen hinsichtlich der eigenen Stimme abgeleitet werden. Durch die Darstellung von Einschränkungen können Ziele innerhalb der Kurse bzw. des Studiums gesteckt werden, um die Stimme als „Steckenpferd“ zu etablieren. Sophie Hohlbein: "Der VHI-12-Students bildet also viele Faktoren der stimmlichen Leistungsfähigkeit ab und sollte als ein erstes Diagnostikinstrument in der Lehrerbildung hinsichtlich der 'Stimme' angewendet werden. Denn durch ihn können frühzeitig Beratungsangebote empfohlen werden, um stimmliche Auffälligkeiten rechtzeitig zu erfassen, anschließend zu trainieren oder durch Therapien zu behandeln. Wir plädieren deshalb dafür, den Fragebogen Studierenden künftig bereits bei Studienbeginn zur Verfügung zu stellen, um eine frühzeitige Sensibilisierung zu ermöglichen." Denn...
Unsere Stimme ist unser wichtigstes Lehrmittel.“ (Studentin 3. Fachsemester)