Wenn die Kirchen geschlossen bleiben, wissen viele Menschen nicht, wie sie ihren Glauben für sich daheim leben sollen, beobachten der Erfurter Liturgiewissenschaftler Prof. Dr. Benedikt Kranemann und Marcellus Klaus, Pfarrer der Erfurter Innenstadtpfarrei St. Laurentius. Grund dafür sei nicht zuletzt, dass sich Kirche und Theologie in ihrer liturgischen Praxis stark auf die Eucharistie konzentrierten. Dabei müssten Christinnen und Christen wieder lernen, auch jenseits des gemeindlichen Gottesdienstes ihren Glauben zu leben, sagten die beiden im Podcast “Hörenswertes im Bistum Erfurt”.
Corona könne eine große Chance sein, sagt Pfarrer Klaus: “Es werden derzeit neue Formate entwickelt, mit denen man vielleicht auch Leute ansprechen kann, die im normalen pastoralen Alltag nicht kommen würden.” Auch könne das Virus dabei helfen, die Kirche vom “Eucharistiedruck” zu befreien, denn die Pandemie stoße einen Lernprozess an, in dem Christinnen und Christen wieder dazu angehalten sind, private Formen des Gottesdienstes zu entwickeln. Gerade hier sieht Klaus eine “große Unfähigkeit”, denn viele Menschen wüssten heute gar nicht mehr, wie sie daheim beten sollten.
Auch Benedikt Kranemann ist der Überzeugung, dass Gläubige “gar keine Praxis mehr haben, daheim etwas zu machen”. Entsprechend fragt der Liturgiewissenschaftler nach zeitgemäßen Formen, die man ihnen an die Hand gebe könne, um auch außerhalb der Messe den eigenen Glauben zu leben. Gebetshilfen und -materialien gebe es zwar reichlich, doch bräuchte es Hilfestellung, um die passenden Materialien zu finden. Die Kirche könne hier aus einem “Schatz an Traditionen” schöpfen, sagt der Theologe und fragt weiter: “Was kann es im Alltag bedeuten, wenn ich so ein eigenes kleines – nennen wir es geistliches, spirituelles, liturgisches – Programm für mich habe […]? Wenn du heute als Christ, als Christin leben willst, in einer Welt, in der das nicht mehr selbstverständlich ist, musst du für dich solche Formen für den Alltag entwickeln. Und da kann ja auch ein Pfarrer begleiten, oder eine Pastoralreferentin, ein Gemeindereferent – da gibt es sicherlich viele Ansprechpartner.”
In seiner Forderung nach neuen liturgischen Formen betont der Liturgiewissenschaftler jedoch ausdrücklich: “Es geht dabei nicht gegen die Eucharistie. Es geht darum zu fragen, was in dieser Situation sinnvoll und hilfreich ist.” In der Erarbeitung ergänzender Angeboten zur Eucharistiefeier sieht Kranemann die Theologie in einer dezidierten Bringschuld: “Auch in der Liturgiewissenschaft ist sehr, sehr viel über Jahrzehnte zur Eucharistiefeier gearbeitet worden. […] Man hat immer die Eucharistie als den ‘Gipfel’ – auch wissenschaftlich – behandelt, ohne zu bedenken, dass dieser Gipfel auch ein größeres Umfeld hat und dass dieses Umland auch eine theologisch-spirituelle Bedeutung hat.”
Auch Pfarrer Klaus berichtet, er sei erschrocken über eine vielfache “Hysterie” unter seinen Mitbrüdern sowie darüber, dass man “die Not” habe zu glauben: “Wir können die Messe nicht mehr feiern, also sind wir nichts mehr wert. […] Man merkt da auch große Defizite. Wenn ich nicht täglich meine Messe feiere, heißt das noch lange nicht, dass ich ein schlechterer Priester bin”, sagt der Geistliche. “Der Prozess den wir da gerade erleben, der ist da auch wirklich heilsam. Weil er uns auf das hinführt, worum es wirklich in unserem Leben geht.”
Doch wie können diese viel beschworenen neuen Formen der Liturgie denn nun aussehen? “Ich glaube gar nicht, dass es das eine Modell gibt”, urteilt Kranemann. “Es kann sein, dass es in der Innenstadt-Pfarrei von Erfurt eine andere Form geben kann, als das irgendwo auf dem Land der Fall ist. Dass es Gebiete gibt, wo bestimmte Frömmigkeitsformen ganz, ganz stark sind, was ich aber in manchen sehr säkularisierten Ballungsräumen vielleicht so gar nicht mehr habe. Da wird es eine Vielfalt geben müssen.” Eben eine solche Vielfalt werde gerade nicht unbedingt nur von “Spezialisten” angeboten, beobachtet der Theologe weiter. Es gebe “auch viele kleine Gruppen, die da sehr beachtliches auf die Beine stellen. Das müssen wir im Nachhinein auswerten und gucken, was man davon retten kann.