„Es geht darum, Unterschiede zuzulassen, anzuerkennen und sogar gut zu finden“

Einblicke

Zum nunmehr dritten Mal findet am 18. Dezember an deutschen Hochschulen ein Aktionstag zum Thema Gender Studies statt. Das Format entstand 2017 als Reaktion auf unterschiedliche Diffamierungen gegen das (Forschungs-)Feld und gegen den Begriff „Gender“. Mit dem Aktionstag soll deshalb das Feld der Gender Studies noch einmal forschungsbasiert in den Fokus rücken. „WortMelder“ sprach darüber mit Jürgen Martschukat, Professor für Nordamerikanische Geschichte an der Universität Erfurt, der sich seit vielen Jahren mit der Thematik wissenschaftlich auseinandersetzt:

Prof. Dr. Jürgen Martschukat
Prof. Dr. Jürgen Martschukat

Herr Professor Martschukat: Um es für all diejenigen auf den Punkt zu bringen, die auch im Jahr 2019 noch nichts mit dem Begriff „Gender“ anfangen können: Was genau verbirgt sich dahinter?
„Gender“ ist ein ursprünglich englischer Begriff, den man als „soziales Geschlecht“ ins Deutsche übersetzen kann. Das ist aber ein bisschen sperrig und deshalb hat sich auch im Deutschen „gender“ durchgesetzt. Es geht dabei darum, dass Menschen bestimmte Merkmale, Eigenschaften, Fähigkeiten und damit auch bestimmte gesellschaftliche Funktionen zugewiesen bekommen, von denen es heißt, sie seien an bestimmte Geschlechter und bestimmte geschlechtliche Eigenschaften gebunden. Geschlecht ist also eine der Kategorien, die Gesellschaften organisieren und die regulieren, wer wie an Gesellschaft teilhaben kann. Und die Genderforschung untersucht, wie das vonstatten geht. Es geht bei der Untersuchung von Gender also auch um Macht, deren Verteilung und Wirkungsweise: Wer kann welche Bildung bekommen, welchen Job machen, wer darf Verträge schließen und Kredite aufnehmen?

und welchen Auftrag hat die Wissenschaft dabei? Welche akademischen Disziplinen setzen sich bereits intensiv mit Gender als Denk- und Analysekategorie auseinander?
Im Prinzip können und sollten das alle akademischen Disziplinen tun, die sich irgendwie mit Gesellschaft und deren Organisation befassen oder sich dessen bewusst sind, dass das, was sie beforschen und tun, in die Gesellschaft hineinwirkt. Das gilt für die Gesundheitswissenschaften genauso wie für die Geschichte. Ich kann hier natürlich am besten für die Geschichte sprechen. Und da hat sich im Zuge des vergangenen halben Jahrhunderts die Erkenntnis durchgesetzt, dass Geschlecht eine wichtige Kategorie historischer Analyse ist. Wir können zum Beispiel zeigen, wie Gesellschaften in der Geschichte über geschlechtliche Vorstellungen und Praktiken strukturiert waren (und das auf ganz unterschiedliche Weise), wie Menschen entsprechend gedacht und gehandelt haben; oder auch wie sie dagegen angekämpft haben. Aber vor allem verdeutlicht die Geschichte, wie sich Geschlechter- und Gesellschaftsordnungen historisch gewandelt haben. Und das zeigt, dass Geschlecht nichts Natürliches ist, was irgendwie gegeben und immer gleich wäre, sondern dass es eben eine soziale Kategorie und als solche zutiefst historisch ist.

Sie selbst haben als Historiker in der Vergangenheit viel zur „Geschichte der Männlichkeit“ geforscht. Das zeigt: Die „Gender Studies“ begrenzen sich eben nicht allein auf Frauen und Transsexuelle. Woher kommt dieses Vorurteil? Wie ist die Forschung dazu historisch gewachsen und was können die Gender Studies eben auch jenseits einer LGBTTI-Community leisten?
Ich denke, zunächst sollte man festhalten, dass es Frauen und die queer community waren, die diese wichtigen Fragen auf die Agenda von Wissenschaft und Politik gesetzt haben. Zugleich hat die Genderforschung recht bald deutlich gemacht, dass wir nicht nur nach Frauen und Vorstellungen von Weiblichkeit fragen dürfen, wenn wir geschlechtlich strukturierte Machtverhältnisse verstehen wollen. Es ist ja nicht so, dass Frausein kulturell und historisch geprägt wäre, Mannsein aber nicht. Um Gesellschafts- und Geschlechterordnungen zu verstehen, müssen wir also auch fragen, was Mannsein wann bedeutete, welche Eigenschaften z.B. als männlich galten und welche Auswirkungen das hatte. Auch wissen wir heute, dass Geschlechtervorstellungen immer im wechselseitigen Mit- oder Gegeneinander entstehen und zudem sehr vielfältig sind. Männer definieren sich über Frauen und über andere Männer, Frauen über Männer und anderen Frauen. Und was z.B. „richtiges“ Mannsein bedeutet, hängt unter anderem davon ab, woher man kommt, an was man glaubt, wie alt man ist etc.

Öffnen wir den Blick für Anwendungsfelder jenseits der Wissenschaft: In Politik und Gesellschaft lässt sich nicht erst seit #metoo eine verstärkte Sensibilisierung für Fragen aus dem Bereich der Gender Studies beobachten. An Schlagworten wie „gendergerechter Sprache“, „Quotenregelung“, „Pay Gap“ oder auch „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ führt heute kaum noch ein Weg vorbei. Was brachte den Stein ins Rollen und wie kann die Wissenschaft diese gesellschaftliche Entwicklung weiter begleiten bzw. fördern?
Genderforschung ist aus dem Geist der Kritik heraus entstanden, der die sozialen Bewegungen seit den 1960er-Jahren angetrieben hat. Es geht um Kritik an gesellschaftlicher Ungleichheit, und da ist Wissenschaft durchaus politisch. Ungleichheit zu kritisieren, bedeutet aber nicht, dass wir nun alle gleich sein sollen. Im Gegenteil: Es bedeutet Unterschiede zuzulassen, anzuerkennen und sogar gut zu finden, daraus aber kein Recht auf gesellschaftliche Bevor- oder Benachteiligung abzuleiten. Alle Menschen seien mit den gleichen Rechten ausgestattet, heißt es schon in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776; nur dass sich lange kaum jemand daran gehalten hat. Dieses Versprechen – mehr als 200 Jahre später – einzulösen und die alten, eingeschriebenen Benachteiligungen endlich abzuschütteln, das ist das Ziel von Geschlechterpolitik; sei es in der Berufswelt, sei es in der Familien- und Sorgearbeit, sei es in der Art und Weise, wie wir mit- und übereinander sprechen. Die Geschichte kann zeigen, wie gesellschaftliche Ungleichheiten entstanden sind und wie sie sich in der Geschichte verfestigt haben. Die Politik ist angehalten, dann die entsprechenden konkreten Maßnahmen auf den Weg zu bringen.

Von der großen, abstrakten Gesellschaft zurück an die „kleine“ Universität Erfurt: Was können wir hier auf dem Campus konkret tun, um für das Thema „Gender“ noch stärker zu sensibilisieren?
„Sensibilisieren“ ist schon mal das richtige Stichwort. Ich denke, wir müssten noch mehr darauf achten, dass wir fair und gerecht miteinander umgehen. Doch diese Sensibilisierung muss auch mit konkreten Schritten einhergehen. Ich denke, wir sind an der Uni Erfurt insgesamt auf einem guten Weg, sollten aber zum Beispiel darauf achten, dass wir den Anteil von Frauen auf Professuren und in Führungspositionen noch weiter erhöhen. Wissenschaftlich würde ich mir wünschen, dass wir es hinkriegen, Geschlecht als Thema und Zugriffsweise in Lehre und Forschung noch sichtbarer zu machen. Auch da sind wir alle gefordert.