Es ist beschlossene Sache: Bundestag und Bundesrat haben zugestimmt, ab dem 1. Januar 2023 wird es das sogenannte "Bürgergeld" geben, das Hartz IV ablösen soll. Vorausgegangen waren dieser Reform jedoch erbitterte Diskussionen der politischen Lager. Insbesondere die Union hatte ihre Zustimmung verweigert. Die Begründung: Arbeit würde sich mit dem neuen Bürgergeld nicht mehr lohnen. Achim Kemmerling, Inhaber der Gerhard Haniel Professur für Public Policy and International Development an der Willy Brandt School of Public Policy der Universität Erfurt, geht diese Reform nicht weit genug. Für unseren Forschungsblog "WortMelder" skizziert er hier, was es für ein echtes, aktives Bürgergeld zur Grundsicherung bräuchte und wie eine größere Akzeptanz dafür in der politischen Mitte gewonnen werden könnte...
Die Diskussion um die deutsche soziale Grundsicherung kommt nicht zur Ruhe. Die berühmten und vielleicht auch berüchtigten so genannten Hartz-Reformen 2000 und 2001 wollten damals einen Durchbruch schaffen, mit dem Leitsatz "Fordern und Fördern". Während die Reform für einige durchaus Verbesserung bedeutete (z.B. Alleinerziehende), war sie für viele andere, vor allem Langzeitarbeitslose, ein tiefer materieller und psychischer Einschritt. Deshalb ist die nicht anhaltende Kritik an Hartz IV und der tatsächlichen oder wahrgenommenen Sanktionspraxis kaum verwunderlich.
Die jetzige Bundesregierung hat deshalb einen neuen Anlauf in Form des Bürgergeldes gestartet, um die Sanktionen für Sozialleistungsbezieher*innen wieder zu lockern. Allerdings ist auch der Regierungsentwurf bei Weitem nicht das, was für viele ein Bürgergeld verspricht: ein bedingungsloses Grundeinkommen bzw. ein universal basic income (UBI). Vielmehr geht es darum, die Anforderungen für den Bezug von sozialen Mindestleistungen zu vereinfachen, etwa was das sogenannte Schonvermögen betrifft. Dennoch ging auch schon diese Lockerung der CDU, deren Zustimmung zum Gesetz im Bundesrat erforderlich ist, zu weit. Der Vermittlungsprozess im Bundesrat wird manche der Lockerungen nochmals zurücknehmen.
Daraus ergibt sich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, eine politische Mehrheit für eine ambitioniertere Reform der Grundsicherung zu bekommen. Studien zur Akzeptanz des UBI zeigen immer wieder, dass die meisten Menschen gerade die Bedingungslosigkeit ablehnen (z.B. Chrisp und Martinelli in Busemeyer et al. 2022; Schwander und Vlandas 2020). Die moralische Intuition vieler Menschen der "politischen Mitte" ist eher mit einer leistungsorientierten Gerechtigkeitsvorstellung vereinbar. Arbeiten oder zumindest die prinzipielle Bereitschaft, Erwerbsarbeit aufzunehmen, ist ein fundamentaler Bestandteil dieser Vorstellung. Deshalb lehnen viele Wähler*innen Sozialtransfers ohne diese Bedingung ab. Debatten über angebliche "Schmarotzer" bzw. "Faulenzer" werden durch Medien noch zusätzlich befeuert (z.B. Oschmiansky, Schmid und Kull 2001). UBI wird daher interessanterweise nur von ideologisch ziemlich weit auseinanderliegenden Befürworter*innen vertreten: einerseits von der LINKEN und einigen Grünen, andererseits von einigen liberalen oder sogar libertären Wirtschaftsbossen. So machte sich in Deutschland u.a. Drogerieketten-Gründer Götz Werner für ein Bürgergeld stark.
Eine grundlegende Reform braucht aber stabile, große Mehrheiten - auch aus der politischen Mitte. Deshalb wäre meines Erachtens eine andere Route zur besseren Grundsicherung erfolgversprechender:
Statt Bedingungen schrittweise zu lockern, so dass mehr und mehr Menschen problemloser Mindestsicherung bekommen, sollten die Bedingungen schrittweise auf neue Aktivitäten ausgeweitet werden.
Gerade der Arbeitsbegriff wird im Zeitalter der Digitalisierung und Individualisierung immer fluider (Busemeyer et al. 2022). Zudem zeigen Großkrisen wie der Kollaps des globalen Finanzsystems 2007/8, die noch nicht ausgeklungene Pandemie oder der sich noch verschärfende Klimawandel, dass es viele sozial wertvollen Tätigkeiten gibt, die nicht oder nicht ausreichend monetär vergütet werden (z.B. Graeber 2018). Daher wäre eine gangbare Alternative zur Abschaffung von Konditionen deren Erweiterung auf unterschiedliche Tätigkeiten. Konkret würde dies bedeuten, Konditionen für Sozialtransfers auf einen erweiterten Begriff der Arbeit anzuwenden: von Freiwilligenarbeit im Rahmen ökosozialer Projekte bis hin zu Eltern- und Pflegezeiten. Teilweise geschieht dies ohnehin schon, etwa bei Rentenansprüchen, aber eine Reform der Grundsicherung zu einem aktiven Bürgergeld könnte dies noch zusätzlich anschieben.
Eine solche Reform hätte auch Nachteile: Zum Beispiel fiele die Sozialstaatsbürokratie nicht in gleichem Maße weg, wie dies von Befürworter*innen eines Grundeinkommens gefordert wurde. Aber die Vorstellung, dass das Grundeinkommen jegliche andere Art von Sozialpolitik überflüssig machte, ist ohnehin unrealistisch. Ein weiterer potenzieller Nachteil wären Mitnahmeeffekte, zum Beispiel, wenn Arbeitgeber*innen vermehrt auf Freiwilligenarbeit setzen, die steuerlich alimentiert wird. Solche Effekte müssten kontrolliert werden.
Und dennoch wäre ein solches, aktives Bürgergeld ein wichtiger Schritt zu einer besseren Grundsicherung. Es würde gerade auch von vielen Menschen aus der "bürgerlichen Mitte" akzeptiert, denn es wird auch diesen Menschen klar sein, dass wertvolle Arbeit nicht immer Erwerbsarbeit heißen muss. Für progressive Linke oder Liberale wiederum müsste ein derartiges aktives Bürgergeld als ein erster Schritt für eine stufenweise Entkonditionalisierung von Sozialpolitik ebenso sympathisch erscheinen. Welche Tätigkeiten bis zu welchem Umfang unter welchen Umständen für einen erleichterten Zugang zum sozialen Minimum infrage kämen, müsste politisch ausgehandelt werden. Aber, dies wäre gerade eine Stärke und eben keine Schwäche eines aktiven Bürgergelds, das politische Akzeptanz erzeugen möchte.