Die Digitalisierung wird nachhaltige Auswirkungen auf Arbeit, Wohlfahrt und die Einkommensverteilung haben. Wie das genau aussieht und was das für den Wohlfahrtsstaat bedeutet, untersucht ein neuer Band von Marius R. Busemeyer, Achim Kemmerling, Kees van Kersbergen und Paul Marx, der in dieser Woche bei Oxford University Press erscheint. Er bringt Beiträge von international renommierten Wohlfahrtsstaatsforschern zusammen und erläutert die potenziellen und realen politischen Antworten auf die Herausforderungen im Zuge der Digitalisierung. "WortMelder" hat bei Mitherausgeber Achim Kemmerling, Inhaber der Gerhard Haniel Professur für Public Policy und International Development an der Willy Brandt School of Public Policy der Uni Erfurt nachgefragt: "Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf den deutschen Wohlfahrtsstaat?"
"Für den Wohlfahrtsstaat ist Digitalisierung sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance. Das hat gerade die Corona-Pandemie nochmals deutlich werden lassen. Wir wissen jedoch immer noch relativ wenig über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die politische Gestaltung und die Politikinhalte des Wohlfahrtsstaates. Aus diesem Grund haben mehrere Kollegen und ich einen Sammelband herausgegeben, der untersucht, wie Industrieländer mit Digitalisierung in zentralen Politikfeldern des Wohlfahrtsstaates umgehen. Zu diesen Politikfeldern gehören Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die Steuerpolitik, aber auch die Bereiche des Gesundheits- und Bildungswesens.
Die vergleichende Perspektive über mehrere Industriestaaten ermöglicht es uns dann auch, Deutschlands relative Performanz besser einzuschätzen. Dabei landet Deutschland im internationalen Vergleich allenfalls im Mittelfeld, was den Stand der Digitalisierung betrifft. Die Pandemie hat uns schonungslos gezeigt, dass wir dringenden Nachholbedarf in einigen wichtigen Bereichen haben. Ganz prominent sind natürlich die Digitalisierung im Schul- und Bildungswesen, im Gesundheitswesen und in der Arbeitswelt. Da stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen – zum Beispiel, wie wir allen Schüler*innen gleichwertigen Zugang zu digitalen Lerninhalten gewähren und wie wir private Dienstleister einbinden können, ohne dass dadurch die entstehenden Daten nicht kommerzialisiert oder missbraucht werden.
Dieser Befund der relativen Rückständigkeit Deutschlands lässt uns natürlich fragen, warum das so ist. Unser Sammelband untersucht dies für mehrere Industrieländer im Vergleich und geht dabei schrittweise vor. Zunächst diskutieren wir allgemein, was unter Digitalisierung genauer zu verstehen ist und was die wichtigsten sozio-ökonomischen Auswirkungen der Digitalisierung sind. Konkret geht es dabei zum Beispiel um Prozesse der virtuellen und physischen Automatisierung, die zum Wegfallen von Berufszweigen oder ganzen Wirtschaftsbranchen führen können. Jedoch sind häufig subjektive Befürchtungen für politische Prozesse noch wichtiger, als tatsächliche ökonomische Schocks. Zudem führt die zunehmende Abhängigkeit von digitalen Medien und Technologien noch zu einer Reihe von weiteren, sozialen und psychischen Anpassungsproblemen, die wichtige Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einem Wohlfahrtsstaat haben. Im Extremfall kann der ständige Gebrauch von Smartphones, des Internets und der sozialen Medien zu Entsolidarisierung und Vereinsamung führen.
Natürlich hat Digitalisierung auch positive Implikationen, etwa verbesserte Dienstleistungen im Gesundheitswesen. Es gibt auch durchaus positive Veränderungen in der Arbeitswelt. So werden neue Berufszweige geschaffen und neue Arten von Flexibilisierung denkbar. Deshalb wendet der Sammelband sich der Frage zu, welche Arten von Konsequenzen im politischen Prozess besonders wahrgenommen und bearbeitet werden.
Auch hier sieht man wieder interessante Unterschiede zwischen den Ländern: Im Gesundheitssektor etwa, ist die Digitalisierung in Staaten wie Estland oder Schweden sehr viel weiter als in Deutschland. Das hat auch mit der Komplexität des deutschen Gesundheitswesens zu tun, das durch viele Arten von Beteiligten und durch den Föderalismus sehr fragmentiert ist. Es hat aber auch mit allgemeinen Befürchtungen in der Bevölkerung zur Datensicherheit zu tun. Diese Befürchtungen sind in Deutschland wesentlich stärker, als in anderen Industrieländern.
Ähnliches gilt auch für den Bildungssektor und das Arbeitswesen. Zusammen mit Stephanie Gast Zepeda haben ich in einem Kapitel des Sammelbandes untersucht, wie wichtig das Thema Digitalisierung in den Debatten des Deutschen Bundestags in den vergangenen 20 Jahren vor Corona war und in welchem Zusammenhang es diskutiert wurde. Es zeigt sich, dass das Parlament Digitalisierung v.a. im Hinblick auf die Modernisierung der Wirtschaft debattierte (Stichpunkt Industrie 4.0). Die Modernisierung von Schulen zum Beispiel, wird erst durch Corona ein wichtiges Thema. Auch andere Aspekte der Arbeitswelt tauchen in diesen Debatten erst seit Kurzem wirklich auf.
Ein weiteres wichtiges Thema: Wie reagiert die öffentliche Meinung auf Digitalisierung und befördert dies neue Politiklösungen, wie zum Beispiel das Grundeinkommen. Hier ist der Befund allgemein und für Deutschland im Besonderen eher skeptisch. Zwar hat die Digitalisierung eindeutig der Diskussion um das Grundeinkommen neues Leben eingehaucht, aber in den meisten Wohlfahrtsstaaten überwiegen vorsichtige Reaktionen und Meinungen. Viele Menschen bevorzugen gewohnte Unterstützungsprogramme wie Arbeitslosengeld oder auch Zusatzangebote im Bereich der (beruflichen) Bildung. Die Arbeitswelt ist noch zu sehr in den Köpfen der Menschen verfangen, als dass eine Entkoppelung von Arbeit und staatlicher Unterstützung akzeptabel erscheint.
Bei einem so weit gefassten Thema ist ein einfaches Fazit notwendigerweise schwierig. Dennoch lässt sich festhalten, dass die Digitalisierung keine Naturgewalt ist, die über Industrieländer hinwegfegt, sondern eindeutig politisch gestaltet werden kann. Auch neue Phänomene wie die Plattformökonomie müssen politisch ausgehandelt werden. Das gilt insbesondere für die zunehmende Verwendung von maschinellem Lernen und intelligenten Algorithmen in der Verwaltung des Wohlfahrtsstaates. Das jüngste Beispiel aus den Niederlanden, kann hier als warnendes Beispiel dienen. Die niederländische Steuerbehörde setzte dabei neuartige Algorithmen ein, um Betrug im Bezug von Kindergeld aufzuspüren. Dies führte dazu, dass bis zu 26.000 Familien, häufig solche mit Migrationshintergrund, fälschlicherweise des Betrugs bezichtigt wurden. Das zeigt, wie verwundbar wir uns machen, wenn wir solche Prozesse auf naive Art und Weise automatisieren. Die politische Steuerung der Digitalisierung im Wohlfahrtsstaat ist deshalb auch in Deutschland unverzichtbar. Vielleicht ist es manchmal gar nicht so verkehrt, nicht zur Avantgarde in der Nutzung von technischen Neuerungen zu gehören."