Im Angesicht der Corona-Pandemie steckt die katholische Kirche nicht nur in Deutschland "in einem gewaltigen Transformationsprozess", sagen Julia Knop und Benedikt Kranemann. Welche Konsequenzen daraus folgen, wollen die Professorin für Dogmatik und der Liturgiewissenschaftler an der Universität Erfurt deshalb genauer untersuchen. Im Dezember starteten sie ein neues Forschungsprojekt unter dem Titel „Pastoral, Theologie und Kirche in Zeiten der Pandemie. Ein europäischer Vergleich“, das in den kommenden Jahren Antworten liefern soll. Unterstützung bekommen die beiden Theologen von Liturgiewissenschaftler*innen, (Sozial)Ethiker*innen, Dogmatiker*innen, Fundamentaltheolog*innen und Pastoraltheolog*innen aus neun Ländern Europas. "WortMelder" hat mit den beiden gesprochen...
Welches Ziel verfolgt das Projekt?
Wir möchten Herausforderungen und Lösungen im Umgang mit der Pandemie sichtbar machen, vergleichen, Querschnittsthemen identifizieren, länderübergreifende Herausforderungen und Ressourcen benennen. Das geht nicht anders als in einer solchen großen Runde. Die Situation der Pandemie bildet ja aus wissenschaftlicher Perspektive durchaus eine Laborsituation, in der Konflikte, Perspektiven, Neuansätze kirchlichen Lebens studiert werden können. Deshalb: Wir wollen schon wissen, wie die Kirche in der Pandemie handelt, was ihre Themen und Interessen sind. Aber es geht uns auch darum, zu sehen, wie sich im Zuge dieses pandemischen Laboratoriums die Institution verändert und wie sie wiederum auf diese Veränderungen bzw. Veränderungsbedarfe reagiert. Mancherorts würde man lieber heute als morgen zu alten Gewohnheiten zurückkehren. Doch „nach“ Corona wird nicht nur die Situation, sondern werden auch die Menschen, also auch die Kirche, anders sein als „vor“ Corona. Vormalige „kirchliche und spirituelle Üblichkeiten“ werden nicht mehr einfach passen – wenn sie denn „vor“ Corona wirklich Bedürfnissen entsprachen und nicht nur langer Gewohnheit folgten. Um es ganz vorsichtig anzudeuten, denn wir stehen noch sehr am Anfang: Es gibt quer durch die Länder, die wir bislang beobachten, die Tendenz, dass an der Basis zum Teil sehr innovativ gearbeitet wird und neue Formate für Seelsorge und Liturgie ausprobiert werden. Wobei es immer Ungleichzeitigkeiten gibt. Es gibt aber auch die Beobachtung, dass oftmals die Kirchenleitungen wenig beweglich wirken und theologisch sehr zurückhaltend sind.
Vor welchem Hintergrund ist das Projekt entstanden?
Eigentlich sind es mehrere Perspektiven, die uns umtreiben. Die Pandemie ist überall, natürlich auch im kirchlichen Leben. Die katholische Kirche steht derzeit nicht nur in Deutschland in einem gewaltigen Transformationsprozess. Wie reagiert eine Glaubensgemeinschaft mit ihren Ritualen, aber auch beispielsweise ihren großen sozialen und caritativen Institutionen auf eine solche Pandemie? Wir sind selbst überrascht, dass beispielsweise über Gottesdienste in solcher Pandemie bisher vergleichsweise wenig geforscht worden ist. Herausforderungen zeigen sich im kirchlich-theologischen Bereich im Bereich der Liturgie und der Pastoral, der Bildung und der Caritas. Die Fragen nach Sinngebung (in) dieser Situation stellen sich neu. Welche Sinnressourcen hat Religion, um mit der Situation umzugehen? Wie werden sie in den verschiedenen Ländern artikuliert, wie wird Glauben praktiziert? Man darf ja auch nicht vergessen, dass religiöse Praxis nach kirchlicher Einschätzung in hohem Maße gemeinsame Praxis und deshalb von den Kontaktbeschränkungen und Hygiene-Anforderungen empfindlich betroffen ist. Verändert sich das jetzt, und wenn ja, wie? Eine weitere Perspektive verbindet sich mit der Herausforderung der Digitalisierung: Beispielsweise über Liturgie und Digitalisierung oder Digitalisierung in der Seelsorge wird schon länger diskutiert. Aber jetzt hat sich gleichsam über Nacht die Situation verändert: Das kirchliche Leben ist kurzfristig über weite Strecken ins Digitale katapultiert worden. Was passiert dann mit alt-vertrauten Ritualen? Was entwickelt sich neu? Wer partizipiert hier?
Die Pandemie wirkt darüber hinaus für die bereits angesprochenen Transformationsprozesse wie ein Brennglas. Sie legt frei, welche (personellen, spirituellen, strukturellen, wirtschaftlichen) Ressourcen vorhanden sind und welche nötig wären. Was vor der Pandemie nicht eingeübt und gepflegt wurde, lässt sich in der Pandemie nur schwer aktivieren. Religiöse Kompetenz zur kreativen individuellen Bewältigung des Lebens, wie sie gerade jetzt nötig wäre, muss wachsen, damit sie auch in der pandemischen Ausnahmesituation wirksam werden kann. Strukturelle Probleme, kircheninterne Konflikte und Ungleichzeitigkeiten, die schon länger bestehen, brechen auf und werden sichtbarer, beispielsweise Disbalancen im Verhältnis von Klerikern und Gläubigen oder das Nebeneinander „entzauberter“ Welt- und Selbstverständnisse und magischer Restbestände in der Frömmigkeit.
Und man darf das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft nicht vergessen: Was erwartet die jeweilige Gesellschaft jetzt von der Kirche? Und wie reagiert diese darauf? Schließlich misst man religiösen Menschen und Institutionen zu Recht eine besondere Sensibilität im Umgang mit Krankheit, Sterben und Tod, mit existenziellen Unsicherheiten und Ängsten zu. Aber wie dies im Einzelnen geschieht und ob kirchliche Angebote, mit solchen Herausforderungen gut umzugehen, als plausibel und hilfreich empfunden werden, wird im katholischen Polen vermutlich anders aussehen als in den säkularisierten Niederlanden. Der Vergleich ist hochinteressant und eröffnet einen neuen Blick für die Vielfalt in einer Weltkirche, die ja als eher uniform und homogen verstanden wird.
Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben dasselbe Fragetableau bekommen und sind eingeladen, zum Einstieg länderspezifisch einzuführen. Sehr verknappt: Vorgestellt wird die Situation im jeweiligen Land und seiner Gesellschaft sowie die Auswirkungen der Pandemie. Dann interessiert, wie in der Pastoral vor Ort mit Gottesdienst, Seelsorge, Diakonie, kirchlichen Medien usw. unter Corona-Bedingungen verfahren wird. Für die Theologie beschäftigt uns: Wird die Pandemie theologisch reflektiert, und, wenn ja, unter welcher Perspektive? Wie agieren in diesem Zusammenhang die Kirchenleitungen, also Bischöfe und Bischofskonferenzen? Wer wird eigentlich aktiv, wer erweist sich als sprach- und handlungsfähig? Gibt es landes- und kulturspezifische Besonderheiten im Umgang mit der Pandemie? Schließlich fragen wir alle Beteiligten, was ihre spezifischen Forschungsinteressen mit Blick das Thema des Workshops sind. Wir haben schon im Laufe des ersten Workshops das Frageraster für das Projekt deutlich weiten können.
Bei Ihrer Analyse bleiben Sie deshalb auch nicht allein Deutschland, sondern wollen Vergleich in ganz Europa ziehen...
Ja. Wir haben einen etwas weiter gefassten Titel gewählt, um möglichst breit Erfahrungen abrufen und analysieren zu können. Der europäische Vergleich ist uns wichtig, um das Handeln von Kirche in verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten beobachten zu können. Bislang gibt es verschiedene Projekte um Corona und Kirche, die doch sehr im nationalen Horizont bleiben. Wir versprechen uns durch den internationalen Vergleich, der ja immer noch auf Europa beschränkt ist, weitergehende Einblicke, wie eine Kirche auf eine solche Pandemie reagiert. Wer ist Akteur in einer solchen Zeit? Wie sind Kirchenbasis und Kirchenleitung involviert? Wie betreibt Kirche Seelsorge „auf Abstand“? Wie antwortet man auf die drängenden Fragen und Sorgen von Menschen, und antwortet man überhaupt? Ist Kirche „systemrelevant“ und wenn ja, inwiefern? Und es geht immer auch um Gottes-, Menschen- und Kirchenbilder, die hier mitverhandelt werden. Der erste Workshop, der jetzt stattgefunden hat, zeigt: Hier gibt es viel zu entdecken und zu reflektieren.
Was geschieht am Ende mit den Ergebnissen?
Geplant ist ein Sammelband mit länderspezifischen Skizzen und Querschnittsthemen, die von einzelnen oder in fach- und länderübergreifender Ko-Autorenschaft bearbeitet werden und bis 2022 vorliegen soll. Im Dezember 2020 gab es einen Workshop, der uns einen ersten sehr interessanten Einblick in das Thema gewährt und einen spannenden Austausch ermöglicht hat. Ein zweiter, ebenfalls digitaler Workshop ist für Februar geplant. Aber es geht uns eigentlich um "work in progress", das bedeutet, unsere Arbeit wird hoffentlich immer weiter fortgeschrieben werden können.
Kommen wir zum konkreten Inhalt Ihrer Arbeit. Wirkt sich die Corona-Pandemie denn auf die Kirchen überall in der Welt in gleichem Maße aus oder gibt es nationale/regionale Unterschiede?
Die Themen und Herausforderungen sind ähnlich, wobei je nach gesellschaftlich-kulturellem Kontext und kirchlichem Standing durchaus unterschiedlich reagiert wird auf
Die jeweilige Verortung der Kirche in den doch recht unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexten führt zudem zu einigen deutlich unterschiedlichen Herausforderungen. So bricht beispielsweise in Ländern Osteuropas, in denen keine Kirchensteuer erhoben und kein schulischer Religionsunterricht angeboten wird, das religiöse Bildungssystem mangels Spenden und sozialer Zusammenkünfte stark ein. Katechetinnen und Katecheten, Seelsorgerinnen und Seelsorger bangen um ihre wirtschaftliche Existenz. Die pastorale und mancherorts auch die caritative Infrastruktur ist massiv geschwächt. In anderen Ländern, in denen im Bildungs- und im caritativen Sektor eine stabile Kooperation von Staat und Kirche besteht, ist demgegenüber eher eine verstärkte systemische Relevanz von Kirche zu beobachten.
Und gibt es da spannende, kreative Ansätze, wie die Kirchen dem Problem bislang entgegenwirken? Wenn ja: Gibt es auch Stimmen, die dagegen argumentieren?
Es ergibt sich ein sehr buntes Bild. Mancherorts möchte man so schnell wie möglich in den Zustand vor Corona zurückfinden. Andernorts haben sich kleine digitale Gottesdienstkreise gebildet und einzelne Seelsorgegruppen, die via Internet funktionieren, organisiert. Es entstehen neue digitale spirituelle Formate, die zum Teil mit erheblichem Anspruch und großer ästhetischer Kraft gestaltet werden. Neben eher traditionellem Repertoire, das coronakonform reduziert wird, machen sich Gemeinden und Gläubige auf den Weg, Neues auszuprobieren und dabei sehr klar auf ihre eigenen religiösen Bedürfnisse zu schauen. Was tut gut, was hilft zur Bewältigung der Situation, was könnte auch in Zukunft helfen zu leben und zu glauben? Licht und Schatten liegen nah beieinander. Aber wenn nicht alles täuscht, gibt es eine unglaubliche Kreativität, die viele so nicht erwartet hätten.
Denken Sie, dass die aktuelle Krise die Kirche(n) auf einen neuen Weg führen und nachhaltige Impulse für Gottesdienste und Seelsorge liefern kann? Und wenn ja: Was wären die Bedingungen dafür?
Denkbar ist: Es wird zum einen davon abhängen, ob man den neuen Initiativen – man könnte ja auch sagen: manches hat start up-Qualität – auch zukünftig in der Kirche Raum gibt und sie fördert. Kreativität braucht Freiraum – aber um nachhaltig wirksam zu sein, brauchen Experimente auch eine gewisse Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit und institutionelles Zutrauen. Zum anderen kommt es auf diejenigen an, die sich jetzt engagieren: Beanspruchen sie zukünftig Raum, treten sie weiterhin selbstbewusst auf, entwickeln sie ihr Engagement eigenverantwortlich weiter, wählen sie weiterhin Kooperationspartner über Gemeinde- und Konfessionsgrenzen hinweg, verbinden sie sich weiterhin mit Kultur und Gesellschaft? Wenn nicht alles täuscht, kann man entsprechende Prozesse in verschiedenen Ländern beobachten. Diese Entwicklungen und Aufbrüche können die Menschen und die Kirche vor Ort nachhaltig verändern. Aber hier muss man längerfristig schauen.
Und was kann die Wissenschaft, was können Sie als Wissenschaftler*innen, dazu beitragen?
Die Theologie kann und soll Praxis nicht dominieren, sondern Reflexionsräume und wissenschaftliche Begleitung anbieten. Außerdem kann sie, und das zeigt ja auch unser Projekt, internationale Vernetzungen organisieren und die diversen Transformationsprozesse und Entwicklungen, die zu beobachten sind, sichtbar machen.