Wenn man gähnen muss, erinnert der Körper daran, dass er Schlaf benötigt. Wenn der Magen knurrt, macht er darauf aufmerksam, dass neue Nahrung nötig ist. Dies sind wichtige Funktionen für die Lebenssicherung. Doch wie steht es um unsere Ängste? Sind auch sie lebenswichtig oder nicht vielmehr überflüssig, ja sogar lähmend und störend? Immerhin zählen die Angststörungen zusammen mit den Depressionen zu den am häufigsten diagnostizierten psychischen Erkrankungen. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Bärbel Frischmann...
Um die Bedeutung von Angst insgesamt etwas genauer bestimmen zu können, ist zunächst die Abgrenzung von der Furcht sinnvoll. Unter Furcht wird die körperlich-emotionale Antwort auf eine direkte Gefahr verstanden, was sich durch Reaktionen wie beschleunigter Puls, schnellere Atmung, gesteigerte Aufmerksamkeit bemerkbar macht. Diese physischen Reaktionen, die kaum bewusst zu kontrollieren sind, bereiten den Organismus auf Flucht oder Kampf vor. Furcht bezieht sich auf die unmittelbare Situation hier und jetzt. Werden Gefahren aber nur vorgestellt, sprechen wir von Ängsten bzw. Angst. Hierbei geht es um gedankliche Szenarien möglicher negativer Geschehnisse, von denen man betroffen sein könnte. Wovor Menschen sich ängstigen, kann individuell und gesellschaftlich sehr unterschiedlich ausgeformt werden, konkreter oder abstrakter sein. Man kann sich ängstigen vor Fröschen, Gewitter, Arbeitslosigkeit, Klimawandel, der Macht des Bösen oder gar dem Weltuntergang. Um die verschiedenen Dimensionen dieser Ängstigungsformen besser einordnen zu können, ist es sinnvoll, eine weitere Unterscheidung dahingehend vorzunehmen, ob die inneren Bilder der Gefahr und Bedrohung körperlich-emotionale Reaktionen wie bei der Furcht auslösen (Ängste als Gefühle) oder ob sie rein gedanklich sind (geistige Angst) und keine physiologischen Begleiterscheinungen aufweisen. Während bei der Furcht also die Gewissheit der Gefahr den Auslöser darstellt, werden Ängste und Angst getragen von dem Bewusstsein der Ungewissheit. Es wird das vor dem inneren Auge ausgemalt, was als unsicher und unbeherrschbar erscheint, was man nicht richtig kontrollieren kann, was deshalb als Gefahr und Bedrohung angesehen wird. Furcht hat immer einen Gegenwartsbezug, Ängste und Angst sind auf Zukünftiges gerichtet.
Wozu aber dienen die ängstigenden Befürchtungen und Sorgen, die uns zum Teil heftig plagen können? Furcht, Ängste und geistige Angst sind Teil unserer menschlichen Grundausstattung. Sie haben jeweils lebenswichtige Funktionen für die Möglichkeiten des Menschen, auf Geschehnisse in der Welt zu reagieren und das eigene Leben darauf einzustellen. Sie entstehen, weil wir als Menschen über das Bewusstsein verfügen, dass unser Leben nicht durchgehend abzusichern ist, dass wir verletzbar und sterblich sind, dass im Zusammenleben mit anderen, in Gesellschaft, Wirtschaft, Familienleben, Umwelt viele Ereignisse möglich sind, die uns bedrohen, gefährden oder überfordern, die so unser eigenes Ich im Tiefsten zu verunsichern und zu ängstigen vermögen. Und schließlich können wir uns letztlich nicht einmal über uns selbst sicher sein, also darüber, wie wir in schwierigen Situationen handeln würden, welche bisher verdeckten Facetten unserer Persönlichkeit ans Tageslicht kommen könnten, welche Ausrichtung wir unserem späteren Leben vielleicht geben werden.
Ängste und Angst helfen uns durch die besondere Aufmerksamkeit, die sie erzeugen, insgesamt für die Strukturierung unseres Lebens vorausschauend zu denken und das eigene Verhalten den Lebensrisiken anzupassen, z.B. für schlechte Zeiten vorzusorgen, für die Prüfung zu lernen oder das Auto regelmäßig warten zu lassen. Und Ängste sind so etwas wie der Spiegel der eigenen Lebenssituation, sie zeigen uns nicht nur unsere Befürchtungen, sondern umgekehrt auch unsere Wünsche und Hoffnungen. Sie spiegeln das, worum wir uns sorgen, was wir schützen und nicht verlieren wollen. Ängste sind nicht nur wie ein Warnsignal, sondern durchaus auch Ratgeber und Orientierungshilfe. Hätten wir diese Ängste nicht, würde das Gefahrenbewusstsein für unser Leben mit seinen vielschichtigen Herausforderungen fehlen, es gäbe keine Vorsicht und Vorsorge, keine absichernde Gefahrenkalkulation, kein entwickeltes Risikomanagement. Menschen wären in komplexen kulturellen und sozialen Lebenskontexten ohne ihre Ängste und ihre vorausschauende geistige Angst nicht überlebensfähig.
Dabei darf nicht übersehen werden, dass gerade die Ängste aus dem Ruder laufen können, wenn Menschen nicht in der Lage sind, ihre eigenen Gefühle zu kontrollieren. Der Umgang mit den eigenen Ängsten muss gelernt werden, jeder Mensch braucht Strategien, die eigenen Gefühle und Gedanken immer wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Hierfür hat die Menschheit seit Jahrtausenden auch Techniken wie Meditation, Askese, körperliche Ertüchtigung, spirituelle Versenkung, Seelsorge, Gebet u.v.m. entwickelt. Doch ein angemessenes Maß für sich selbst zu finden, scheint in der heutigen hochdynamischen, komplexen, medial wuchernden und von Informationen überquellenden Welt für viele Menschen besonders schwierig, sodass es dann dazu kommen kann, dass Ängste pathologisch werden und die Betroffenen dann meist auch therapeutische Hilfe benötigen.
Doch Ängste sind nicht einfach da, sondern sie sind unser eigenes Produkt, wir selbst formen sie gedanklich, indem wir über unser Leben und die Welt nachdenken und uns vorstellen, welche Risiken und Gefahren uns betreffen könnten. Dabei ist es immer möglich, die eigenen Perspektiven zu ändern, die Ängste quasi umzubauen, zu verstärken oder zu mildern. Hier setzen auch viele Therapien an. Aber es kann nicht darum gehen, Ängste zu eliminieren. Vielmehr ermöglicht die Akzeptanz der eigenen Ängste, ihren Nutzen zu sehen.
Richtig verstanden sind alle Ängstigungsformen von Furcht bis Angst eine Art Wegweiser, indem sie uns helfen, uns in unserer Welt zu orientieren, Gegebenheiten zu bewerten, die Lebensrisiken abzuschätzen und entsprechend zu handeln. Sie konfrontieren uns damit, dass wir endlich, verletzlich und sterblich sind, dass es Menschen gibt, um die wir uns sorgen, dass Frieden und Demokratie nie sicher sind, dass unsere Umwelt zerstörbar ist. Vor allem die geistige Ausprägung der Angst ermöglicht dabei sowohl die gezielte Auseinandersetzung mit sich selbst, mit den eigenen Lebensplänen und Sinngebungen, als auch mit den Unwägbarkeiten und Gefährdungen, die die ganze Menschheit betreffen. Man kann an dieser Stelle sogar noch ein Stück weiter gehen und vor allem die bewusste, geistige Angst explizit einfordern als die Fähigkeit, uns gezielt mit den Risiken und Folgen menschlichen Handelns auseinanderzusetzen. So forderten beispielsweise Günther Anders und Hans Jonas eine „Bereitschaft zur Angst“, um das erforderliche Problembewusstsein zu entwickeln, das für die Auseinandersetzung mit den modernen Lebens- und Wirtschaftsformen mit ihren enormen Eingriffen in die Lebensgrundlagen notwendig ist.
Angst in ihren verschiedenen Ausprägungsebenen von den gefühlten Ängsten bis zur geistigen Angst ist also weder unnütz noch einfach eine Marginalie, sondern konstitutiv für das Menschsein überhaupt, „denn wir sind Angst“, um es mit Jean-Paul-Sartre zu formulieren.
... ist Professorin für Geschichte der Philosophie am Seminar für Philosophie. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung u.a. mit der Bedeutung von Angst und verschiedenen Angsttheorien. Im Oktober 2023 hat sie dazu die Monografie "Angstwesen Mensch. Furcht, Ängste, Angst und was sie bedeuten" veröffentlicht.