Alles Blödsinn!? (Teil 6)

Einblicke , Gastbeiträge , Vorgestellt

"Guter Unterricht sollte zum individuellen Lernstil von Schüler*innen passen." // "In kleinen Klassen lernen Schüler*innen besser" // "Jungen sind in Mathe, Naturwissenschaften und Co. von Natur aus besser als Mädchen." // "Mit Klassenwiederholung können Schüler*innen mangelnde Leistungen aufholen." // "Privatschulen sind besser als öffentliche Schulen" // Oder wie wäre es hiermit: "Jungen sind in der Schule benachteiligt, weil es dort mehr Lehrerinnen als Lehrer gibt."
Das haben Sie so oder so ähnlich auch schon gehört? Vermutlich, denn solche Narrative gibt es im Bildungsbereich eine ganze Menge. Aber lassen sie sich auch wissenschaftlich belegen oder handelt es sich dabei schlicht um "Bildungsmythen"?

Jana Asberger wollte es genau wissen. Die studierte Psychologin ist seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der Professur für Bildungsforschung und Methodenlehre, Universität Erfurt und beschäftigt sich mit Überzeugungen im Bereich der Bildung und des Unterrichts an Schulen. Sie fragt dabei unter anderem wie man Bildungsmythen erkennt und wie man sie am besten aufklären kann. Und inzwischen kennt sie eine ganze Reihe althergebrachter Glaubenssätze, die Lehrkräfte im Unterricht getrost ignorieren können. Ihr Wissen teilt sie nun auch mit einer breiten Öffentlichkeit – unter anderem in dem jetzt veröffentlichten Dossier "Bildung" der Bundeszentrale für politische Bildung und im Podcast "Besserwissen", den sie zusammen mit Madeleine Müller und Marcus Berger an der Universität Erfurt produziert.

Lesen Sie hier ihre Beiträge!
Teil 6: Jungen sind in der Schule benachteiligt, weil es da mehr Lehrerinnen als Lehrer gibt!

Seit Anfang der 1980er-Jahre sind Mädchen in deutschen Schulen erfolgreicher als Jungen (Helbig, 2010). Jungen werden sogar als Bildungsverlierer bezeichnet (Kessels, 2014). Verständlicherweise gibt es in der Öffentlichkeit viele Diskussionen über die Ursachen dieser Geschlechterunterschiede. Eine häufig diskutierte Erklärung ist die sogenannte Feminisierung der Schulen (Hannover & Wolter, 2020). Damit ist gemeint, dass immer mehr Lehrerinnen an deutschen Schulen unterrichten und folglich die gesamte Schulkultur „weiblicher“ geworden sei. Diese feminisierte Schulkultur entspreche mehr den Lernbedürfnissen von Mädchen und benachteilige dabei Jungen. Allerdings ist es wissenschaftlich nicht erwiesen, dass sich ein hoher Anteil weiblicher Lehrkräfte nachteilig auf den Schulerfolg von Jungen auswirkt.

Tatsächlich erzielen Jungen im Durchschnitt schlechtere Ergebnisse in Kompetenztests (mit Ausnahme von Mathe und Naturwissenschaften), werden seltener für das Gymnasium empfohlen, erreichen im Durchschnitt niedrigere Bildungsabschlüsse und verlassen die Schule häufiger ohne einen Schulabschluss (Schipolowski, u.a., 2019; Stanat, u.a., 2018). Gleichzeitig ist der Anteil weiblicher Lehrkräfte gestiegen (Neugebauer & Gerth, 2013). Im Schuljahr 2021/2022 waren laut dem Statistischen Bundesamt insgesamt 708.967 Lehrkräfte an den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland angestellt (Destatis, 2022). Davon waren 517.410, also 73 Prozent der Lehrkräfte weiblich (Destatis, 2022). An Grundschulen lag der Anteil weiblicher Lehrkräfte sogar bei 89 Prozent (Destatis, 2022). Leitet man aus diesem Zusammenhang allerdings eine Ursache-Wirkung-Beziehung ab, begeht man einen sogenannten kausalen Fehlschluss. Nur weil es mehr Lehrerinnen an Schulen gibt und Jungen gleichzeitig in der Schule weniger erfolgreich sind, bedeutet das noch lange nicht, dass der hohe Anteil an Lehrerinnen auch die Ursache für den geringeren Bildungserfolg von Jungen ist.

In wissenschaftlichen Studien, die die Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen dem Geschlecht der Lehrperson und dem Schulerfolg untersucht haben, zeigen sich meistens keine Effekte auf den Kompetenzerwerb und die Schulnoten der Schüler*innen (Coenen u.a., 2018; Kleen u.a., 2022; Neugebauer & Gerth, 2013). Nur in wenigen Studien konnten leichte Tendenzen festgestellt werden, nach denen Mädchen bessere Leistungen zeigten, wenn sie von einer weiblichen im Vergleich zu einer männlichen Lehrkraft unterrichtet wurden (Helbig, 2012; Hwang & Fitzpatrick, 2021; Lee u.a., 2018). Gleichzeitig machte es für die Leistung von Jungen allerdings keinen Unterschied, welches Geschlecht die Lehrkraft hatte.

Warum Jungen im Bildungssystem weniger erfolgreich sind als Mädchen, bleibt dennoch eine wichtige Frage, für die es breiter interdisziplinärer Forschungsanstrengungen bedarf. Neben der Feminisierung der Schule gibt es andere Erklärungsansätze, wie zum Beispiel, dass Mädchen nachweislich eher über lernförderliche Eigenschaften, wie Selbstdisziplin, soziale Fähigkeiten oder lernförderliche Motivation verfügen, die mit besseren Noten einhergehen (Hannover & Wolter, 2020). Lange Zeit, so das Argument, waren Mädchen wegen geschlechterstereotypischer Rollenbilder und Begabungsvorstellungen im Bildungssystem benachteiligt und insbesondere in den höheren Bildungsgängen wenig vertreten. Mit dem Abbau solcher Stereotype und der zunehmenden Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern würden Mädchen jetzt jedoch die Möglichkeit erhalten ihr tatsächliches akademisches Potenzial zu verwirklichen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es keine gesicherten Befunde gibt, die Grund zu der Annahme geben, dass der hohe Anteil weiblicher Lehrkräfte in den Schulen ausschlaggebend für das schlechtere Abschneiden von Jungen ist. Eine Erhöhung des Anteils männlicher Lehrkräfte, wie sie immer wieder gefordert worden ist, dürfte daher wenig dazu beitragen, die bestehenden Geschlechterunterschiede im Bildungserfolg zu vermindern.

 

Weitere Beiträge veröffentlichen wir in loser Folge ebenfalls an dieser Stelle. (Hinweis: Diese Texte wurden erstmals unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 4.0 - Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International" veröffentlicht. Autorin: Jana Asberger für bpb.de)

Oder lauschen Sie einfach den Folgen im "Besserwissen"-Podcast.Danach sind Sie definitiv schlauer.

Zum Weiterlesen...
  • Asberger, J., Futterleib, H., Thomm, E., & Bauer, J. (2022). Wie erkennt man Bildungsmythen? Sieben Heuristiken zum Selbsthinterfragen und Weitersagen. In G. Steins, B. Spinath, S., Dutke, M. Roth, & M. Limbourg (Hrgs.). Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht. Berlin: Springer.
  • Bauer, J. & Asberger, J. (2022). Was Lehrkräfte im Unterricht getrost ignorieren können: Lernstile von Lernenden. In G. Steins, B. Spinath, S., Dutke, M. Roth, & M. Limbourg (Hrgs.). Mythen, Fehlvorstellungen, Fehlkonzepte und Irrtümer in Schule und Unterricht. Berlin: Springer.
  • Asberger, J., Thomm, E., & Bauer, J. (2021). On predictors of misconceptions about educational topics: A case of topic specificity. PloS ONE. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0259878. Open Data and open materials: osf.io/pnj6k/
  • Asberger, J., Thomm, E., & Bauer, J. (2020). Empirische Arbeit: Zur Erfassung fragwürdiger Überzeugungen zu Bildungsthemen: Entwicklung und erste Überprüfung des Questionable Beliefs in Education-Inventars (QUEBEC). Psychologie in Erziehung und Unterricht. doi: 10.2378/peu2019.art25d.