Jeder kennt das: Eben noch total erschöpft, wird man plötzlich im Miteinander gestärkt. Diese Kraft zu verstehen, ist überlebenswichtig für uns alle. Hartmut Rosa nennt sie "Soziale Energie" und schildert seine Überlegungen in unserem Gastbeitrag:
Jeder kennt das. Es ist Freitagabend, und wir sind zu nichts mehr zu gebrauchen. Dösen ein schon auf dem Sofa. Heute mache ich gar nichts mehr. Wir schaffen es kaum noch ins Bett. Da klingelt es, und ein paar Freunde überreden uns, doch noch auszugehen. Vielleicht in einen Club oder ins Konzert, vielleicht gar zum Fußball oder auch nur in die Kneipe. Wider Erwarten wird der Abend anregend, aufregend und erholsam. Als wir zurück sind, sprühen wir vor Energie und Tatendrang, machen Pläne für das Wochenende.
Wie kann das sein? Wie ist es möglich, Energie auszugeben, obwohl wir keine haben, und dabei und dadurch neue Energie zu gewinnen? Sicher, wir würden sagen: Wir haben Energie getankt. Aber wie zur Hölle tankt man Energie? Was ist das überhaupt, Energie, wenn es sich nicht um das physikalische Phänomen handelt? Und wieso haben von Jahr zu Jahr mehr Menschen das Gefühl, ihnen gehe die Energie aus, sie seien nur noch erschöpft? Geben wir uns nicht mit pseudowissenschaftlichen oder esoterischen Erklärungen zufrieden, ist die Suche nach einer Antwort nicht einfach.
Die moderne Gesellschaft ist eine Hochenergiegesellschaft. Tag für Tag verbrauchen wir nicht nur Unmengen an physikalischer Energie – fossile, nukleare, solare –, sondern wir benötigen sogar immer mehr davon: Im gerade abgelaufenen Jahr hat der damit verbundene globale CO₂-Ausstoß schon wieder ein Rekordniveau erreicht, obwohl zugleich die Produktion erneuerbarer Energien gewaltig gestiegen ist. Wir verbrauchen diese Energie nicht, um die Welt zum Besseren zu verwandeln, sondern um die bestehenden Systeme, um die sozialen Funktionen und Institutionen aufrechtzuerhalten. Dynamische Stabilisierung ist der Operationsmodus dieser Gesellschaft, das heißt: Aufrechterhaltung des Bestehenden durch beständige Steigerung der Produktion, des Tempos, der Innovationsleistung.
Evolutionshistorisch betrachtet ist das geradezu widernatürlich: Kein lebendiger Organismus und kein Ökosystem richtet sich so ein, dass sie stetig mehr Energie zum Überleben benötigen. Im Gegenteil: Biologische wie zivilisatorische Evolution beruht zu einem nicht geringen Teil darauf, den notwendigen Energieeinsatz zu reduzieren oder "freie" Energie zu erzeugen. Die moderne Weise, mit Energie umzugehen, führt zur Überhitzung der Erdatmosphäre – und zum Ausbrennen der individuellen Psyche. Denn die Steigerungsleistung wird ja nicht einfach durch den Einsatz physischer Energie erzeugt, sondern erfordert auch die Investition psychischer Energie, menschlicher Anstrengung und Verbesserung.
Mehr noch: Wie es scheint, erleiden nicht nur die Individuen, sondern auch die Staaten als kollektive politische Akteure einen Zustand von Erschöpfung, der an Erstarrung grenzt. Die amtierende deutsche Ampel-Regierung ist als "Fortschrittskoalition" angetreten, die alle Zeichen auf Innovation setzen wollte – doch wie sich zeigt, ist der lähmende Stillstand kaum zu überwinden.
So wie sich ein Mensch im Burn-out kaum mehr eine Treppe hochzugehen traut, so scheint jedes wirkliche Reformprojekt unerreichbar. Die politische Einsicht lautet, wir müssten (endlich) mehr Energie in die Digitalisierung, mehr Energie in die Bildung stecken; mehr Energie für die Verteidigung, für die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit, der ökonomischen Stagnation und des Klimawandels aufwenden – aber die politische Wahrnehmung sagt uns: Wir haben keine Kraft mehr dazu. Zugleich sind wir individuell wie kollektiv unfähig, auch nur langsamer zu machen, den Energieumsatz zu reduzieren, aufzuhören, uns selbst und die Umwelt zu zerstören. Kein Zweifel, wir haben eine gewaltige, doppelte Energiekrise.
Woran liegt das? Wie ließe sich ein Zustand beschreiben, der das Gegenteil eines rasenden Stillstandes darstellt? Was wäre eine "ruhende Bewegung"? Meine These lautet: Das Grundproblem liegt in einem kulturell und institutionell tiefsitzenden und sogar sprachlich verankerten Fehler in der Konzeption von Bewegung, von Energie. Dieser Fehler macht sich auf zweierlei Weise bemerkbar: Erstens, die modernen Sprachen verfügen erstaunlicherweise über keinerlei Begriff von sozialer Energie. Das ist ein folgenreiches Spezifikum der modernen Gesellschaft westlichen Typs.
Ein zirkulierender Energiestrom
Und zweitens, wir können uns Energie nur in Input-Output-Relationen vorstellen und fragen daher stets: Was stecke ich hinein, an Aufwand, Zeit, Kraft – eben: Energie? Und was kriege ich heraus? Lohnt es sich? Was wir aber brauchen, ist eine Konzeption zirkulierender sozialer Energie. Deren Grundzüge möchte ich hier skizzieren, nicht ohne zu betonen, dass die Entwicklung eines solchen Konzepts eine kulturelle Herausforderung darstellt, da es der Sprache, dem Denken, dem Handeln und den Institutionen der modernen Gesellschaft zuwiderläuft.
Führen wir uns noch einmal den Freitagabend vor Augen, an dem wir uns zum Ausgehen überreden ließen: Wir erfahren in der Aktivität einen Energieschub – dieser lässt sich aber nicht als Input-Output-Relation modellieren. Die Antriebsenergie für die gemeinsame Aktivität kommt aus dieser selbst, es handelt sich um Interaktionsenergie, wie sie beispielsweise in einem gelingenden Gespräch, beim Musizieren oder beim Sporttreiben und manchmal auch bei der Arbeit entsteht. Diese Energie lässt sich keinesfalls als Summe der individuellen Energien verstehen.
Wenn es schlecht läuft, haben wir das Gefühl, viel Energie verbraucht zu haben und "gerädert" oder "erledigt" nach Hause zu kommen: "Es kam nichts zurück", sagen wir dann. Dieses Gefühl teilen sämtliche Beteiligten, wenn sie die Situation ähnlich erfahren haben. Es wäre also auch falsch, sich hier einen Energieaustausch als Nullsummenspiel vorzustellen, bei dem die einen investieren und die anderen profitieren. Gerade andersherum ist es beim gelingenden Abend: Hier fühlen sich hinterher alle beflügelt und beschwingt und haben den Eindruck, die Dinge hätten sich wie von selbst entwickelt, ohne dass es stetiger Anstrengung bedurft hätte.
Daraus ergibt sich dreierlei: Erstens, soziale Energie ist keine individuelle Ressource, sondern eine kollektive Kraft. Deshalb lässt sie sich nicht einfach als psychologische Größe im Sinne individueller Antriebsenergie fassen. Zweitens, sie ist überhaupt nicht als Ressource zu verstehen, die wir in einem Input-Output-Verhältnis verrechnen könnten, sondern sie entsteht uno actu in ihrer Verausgabung: Investition und Gewinn, wenn wir so wollen, fallen zusammen. Und drittens, sie existiert nur in der Bewegung, sie ist zirkulierende Energie – sobald wir sie "haben" wollen, verschwindet sie. Wenn wir uns nach der Verausgabung beim Sport oder im Theater energiereicher fühlen als vorher, so haben wir nicht soziale Energie getankt, die irgendwo gespeichert gewesen wäre, sondern wir haben uns – genau: in einer ruhenden Bewegung für einen zirkulierenden Energiestrom geöffnet.
Diese Idee kann unmittelbar an chinesische (Dao, Qi), indische (Prana), viele afrikanische und diverse indigene Konzeptionen von Energie und auch an die griechische Philosophie anschließen, die in den Begriffen von ergon, energeia, pneuma oder dynamis durchaus über Energiekonzepte verfügte. Der großartige senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne, der ein Buch über Bergsons élan vital aus postkolonialer Perspektive geschrieben hat, bezeichnete kürzlich in der ZEIT die Idee einer Lebensenergie, die alle Dinge durchzieht und auch uns Menschen bewegt, als "Substanz der afrikanischen Philosophie". Und sein kamerunischer Kollege Achille Mbembe schreibt in seinem in der taz veröffentlichten Brief an die Deutschen: "Was ich sage und schreibe, versteht man so gut wie gar nicht, wenn man nicht weiß, dass es alles seinen Ursprung in den afrikanischen Metaphysiken des Lebendigen hat, in den afrikanischen Begriffen der Lebensenergie, der Zirkulation der Welten und der Metamorphose des Geistigen."
So unterschiedlich diese Konzepte auch sind, was sie gemeinsam haben, ist die Überzeugung, dass Energie im psychosozialen Sinn nicht individueller Besitz ist, nicht etwas, das wir haben oder gar aufbringen müssen, sondern etwas, an dem wir partizipieren, dem gegenüber wir uns öffnen oder verschließen können. Die Fruchtbarmachung eines solchen Konzeptes für die Soziologie könnte ein erfolgversprechender Weg dazu sein, deren eurozentrische Engführungen zu überwinden.
Allein, es klingt für europäische Ohren nichtsdestotrotz esoterisch oder gefährlich irrationalistisch: Ein zirkulierender Energiestrom, was, bitte schön, soll das sein? Mein Vorschlag lautet, dass wir uns darunter keine metaphysische Substanz vorstellen sollten, sondern den Begriff zunächst nur als Metapher für etwas verwenden, was zwischen Menschen und vermutlich auch zwischen Menschen und Dingen möglich ist: Es kommt durchaus vor, dass wir nicht mit Freunden ausgehen, sondern Klavier spielen oder wandern und auch dabei in der Verausgabung von Energie neue Kraft gewinnen.
Lohnt es sich?
Fragen wir also nicht nach der Substanz, sondern nach dem Phänomen: Warum gelingt das in solchen Fällen, und warum oft nicht beim Abarbeiten der To-do-Liste? Die individuelle wie die kollektive Burn-out-Pandemie hat ihren Ursprung gerade darin, dass sich unsere privaten und politischen Aktivitäten in wachsendem Maße wie Tätigkeiten anfühlen, bei denen wir immer mehr Energie verbrauchen, aufwenden, investieren müssen und immer weniger zurückerhalten. Wir müssen immer mehr leisten, um uns etwas leisten zu können. Dies ist das Gefühl oder die Erfahrung, die Menschen in den Populismus treibt. Sie berechnen, was nach Abzug aller Investitionen als Gewinn für sie übrig bleibt: Input, Output.
Das gesellschaftliche Denken und Handeln hat diese Spaltung radikalisiert. Als die energetische Grundform des Kapitalismus erweist sich: Er saugt immer mehr physische und psychische Energie auf der Input-Seite ein, stößt immer mehr und immer billigere Waren, die sich stetig in Abfall verwandeln, auf der Output-Seite aus, führt dazwischen aber zur individuellen und kollektiven Erschöpfung.
Tatsächlich erleben wir in zunehmendem Maße sogar unsere sozialen Beziehungen nach diesem Modell: Wir reden von "Beziehungsarbeit" und messen den Ertrag am Aufwand an Zeit und Energie, die wir in Partnerschaft, Kinder oder Freunde investieren müssen. Was stecken wir hinein, was kriegen wir heraus? So gute Gründe es dafür auch gibt, Beziehungsarbeit als solche zu definieren und in ökonomischem Wert zu berechnen: Was dabei aus dem Blick gerät, ist, dass die energetische "Arbeit" und damit ihr subjektiver Wert ganz wesentlich im Geschehen selbst und damit jenseits von Input und Output liegt – man könnte für dieses bewegte Geschehen das holprige Wort "Throughput" verwenden.
Meine kurz gefasste, provokative These lautet: Anstrengung führt zu Energiegewinn, wenn ihr subjektiver Fokus auf der Tätigkeit selbst, auf dem "Throughput" liegt, und sie führt zu Erschöpfung, wenn er auf der Input-Output-Beziehung ruht.
Der in Dänemark geradezu kultisch verehrte Philosoph Knud Ejler Løgstrup macht das an der einfachen Frage deutlich, ob Liebe (zu Kindern, Partnern oder Freunden) als egoistisch oder als altruistisch zu qualifizieren sei. Seine Antwort lautet, die Unterscheidung mache an dieser Stelle überhaupt keinen Sinn. Genuine Liebe sei sowohl egoistisch als auch altruistisch, oder genauer: weder – noch, denn sie ist ein partizipatives Geschehen, bei dem Geben und Empfangen zusammenfallen. Und siehe da: Ebendies gilt für mehr oder minder alle sozialen Aktivitäten, bei denen wir Energie tanken können.
Lohnt es sich? Und: cui bono? Dies sind die Grundfragen der Input-Output-Orientierung, und meine Diagnose lautet: Erstens, wir stellen uns diese Fragen individuell und kollektiv immer öfter und immer verzweifelter und in immer mehr Lebensbereichen – und werden, zweitens, immer erschöpfter dabei. Was fehlt, ist der Sinn für die Dimension des energetischen Geschehens dazwischen und damit zugleich für das Gelingen des Interaktionsprozesses. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Dänen bei der Frage nach Glück und Lebenszufriedenheit stets vorderste Ränge einnehmen.
Doch die Notwendigkeit, ein Konzept sozialer Energie zu definieren, reicht über die Frage der Lebensqualität weit hinaus. Sie ist essenziell für die Vitalität der Gesellschaft, und sie ist es auch für die Leistungsfähigkeit der Sozialwissenschaften. Die vorherrschenden sozialtheoretischen Ansätze basieren allzu oft auf einem statischen Bild von Gesellschaft, die sie etwa als Klassengesellschaft oder als funktional differenzierte Gesellschaft entwerfen. Woher und wie aber kommt die Bewegung darin zustande? Wie anders etwa lässt sich die (oft plötzliche) Zu- und Abnahme der Kraft sozialer Bewegungen wie Fridays for Future erklären, wie das Momentum politischer Ideen oder die Dynamik kultureller Entwicklungen – etwa der 68er-Bewegung –, wenn nicht auf der Basis eines Konzepts zirkulierender sozialer Energie? Einer Energie, die weder auf Physik noch auf individuelle Antriebsenergie reduziert werden kann?
In meinem Buch "Resonanz" habe ich eine Soziologie gelingender Weltverhältnisse formuliert, und die Frage nach der sozialen Energie setzt hier neu an: Die erst noch zu leistende begriffliche Arbeit der Soziologie besteht darin, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen der Fluss sozialer Energie im sozialen Leben, im politischen Handeln, in der Arbeit und im Konsum zu zirkulieren beginnt und wodurch er blockiert wird – oder aber so umgeleitet, dass er destruktive Formen annimmt. Denn zweifellos lässt sich auch kriminelle oder terroristische Energie als soziale Energie im skizzierten Sinne begreifen.
Auf dieser Grundlage ließe sich vielleicht ein neues Verständnis dafür gewinnen, was falsch läuft in der heißdrehenden Erschöpfungsgesellschaft der Gegenwart, die stetig zwischen aktiv und passiv, Subjekt und Objekt, Input und Output, Egoismus und Altruismus hin- und herschwankt und sich dabei in ihrem energetischen Höchsteinsatz immer mehr ins Destruktive zu verkehren scheint, weil "nichts zurückkommt". Die wahre Gesellschaft, schreibt Adorno in den Minima Moralia, werde vielleicht "der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen".
Dieser Artikel ist auch in Ausgabe 02/2024 der ZEIT am Wochenende erschienen.
Der gebürtige Schwarzwälder ist Direktor des Max-Weber-Kollegs der Universität Erfurt und lehrt außerdem als Professor für Soziologie in Jena. Bekannt wurde der 58-Jährige u.a. durch seine beiden modernekritischen Werke "Beschleunigung" und "Resonanz". Nun hat er mit der Arbeit an einem dritten Forschungsprojekt begonnen, ermöglicht auch durch die Gelder des Leibniz-Preises, mit dem Rosa 2023 ausgezeichnet wurde.